Frostengel
Tagebuchaufzeichnungen vor mir und tat nichts. Gerne hätte ich weitergelesen, aber vorher musste ich mir klar darüber werden, was ich mit all den Informationen anfangen sollte. Da war zunächst die Sache mit Leon. Laut Julia war er zwar ein bisschen sonderbar, aber nett. Ihn hatte sie keine Sekunde lang verdächtigt. Warum nicht? Schließlich war er Melissas Freund gewesen. Auch wenn diese Beziehung fast ein Jahr vor Melissas Selbstmord zurücklag, hieß das nicht automatisch, dass Leon aus dem Schneider war. Melissa hatte einen anderen, älteren Typen, hatte Tanja erzählt. Julia hatte geglaubt, es sei ihr Vater. Ich konnte mir das immer noch nicht vorstellen, trotz aller Hinweise, die sie gefunden hatte. Und trotz seiner früheren Affäre, die ihm aber noch lange keinen Grund gab, schon wieder fremdzugehen. Oder?
Ich würde Melissas Freundin Tanja anrufen, und zwar jetzt gleich. Vielleicht war ihr etwas eingefallen, was sie Julia noch nicht erzählt hatte.
Die andere Sache betraf Herrn Mechat. Ich musste ihn unbedingt nach Melissa und seiner Beziehung zu ihr fragen. Einen anderen Weg gab es nicht, um herauszufinden, ob er wirklich eine Affäre mit wem auch immer hatte. Julia hatte sich nicht getraut, ihren Vater mit ihrem Verdacht zu konfrontieren. Vielleicht war das ein großer Fehler. Es hätte sich alles in Wohlgefallen auflösen können. Oder sie hätte zumindest gewusst, woran sie war. Morgen, nach der Beerdigung, nahm ich mir vor. Ich griff nach meinem Handy und tippte die Nummer ein, die Julia in weiser Voraussicht in ihr Tagebuch geschrieben hatte. Es tutete zweimal. Dreimal. Dann meldete sich eine Frauenstimme.
Ich schluckte, bevor ich mich vorstellte und Tanja sagte, warum ich sie anrief.
»Weißt du, was? Ich bin gerade auf Besuch bei meinen Eltern. Wenn du willst, treffen wir uns auf einen Kaffee. Da können wir in Ruhe reden.«
Wir machten für den Nachmittag ein Treffen aus. Ich hatte gerade aufgelegt, als es an meiner Tür klopfte und meine Mutter den Kopf hereinsteckte. »Besuch für dich«, sagte sie mit einem Grinsen im Gesicht. Dann deutete sie auf den Handtuchturban, den ich immer noch aufhatte. »Ich würde mir an deiner Stelle das Ding vom Kopf wickeln.«
»Wer ist es?« Mir fiel beim besten Willen niemand ein, der mich an einem Sonntag besuchen kommen würde.
»Hm, Leon sowieso.«
Leon? Woher wusste er, wo ich wohnte? Und was wollte er hier? Sich entschuldigen? Nein, nicht er, ich sollte mich entschuldigen. Ich hatte mich so was von idiotisch verhalten.
»Gib mir fünf Minuten«, bat ich meine Mutter. Sie lächelte und nickte. »Ich mach Kaffee oder Tee oder was auch immer dieser Leon gerne trinken mag. Und dann quetsche ich ihn aus, wie Mütter das bei Jungs so machen, die ihre Töchter besuchen.« Ich hätte ihr sagen können, dass Leon nicht in diese Kategorie Jungs fiel. Er wollte nichts von mir. Doch warum war er dann gekommen? Julias Tagebuch verstaute ich in meiner Schreibtischschublade und löste mit einem schnellen Handgriff gleichzeitig das Handtuch von meinen Haaren. Dann sah ich mich in meinem Zimmer um. Die Bettdecke hatte eine Mulde, dort wo ich vorhin gelegen hatte. Ansonsten lagen weder Kleidungsstücke noch sonst irgendwelche anderen Sachen herum. Im Eiltempo strich ich die Decke glatt, öffnete das Fenster einen kleinen Spalt und rauschte ins Bad, um meine Haare zu bürsten. Fönen konnte ich sie nicht mehr, dafür blieb keine Zeit, also ließ ich sie so, wie sie waren, und steckte sie einfach mit einer Spange hoch. Erst jetzt, als ich mich im Spiegel betrachtete, wurde mir bewusst, dass mein Herz schneller klopfte als sonst. Das ist nur, weil ich mich gerade so abgehetzt habe, versuchte ich, mir einzureden.
Ein paar Mal atmete ich tief ein und aus, bis ich das Gefühl hatte, mein Puls würde nicht mehr galoppieren. Okay, auf in die Höhle des Löwen. Ich war bereit.
Es war ein eigenartiges Bild, Leon bei uns am Küchentisch sitzen zu sehen. Zu beobachten, wie er sich mit meiner Mutter unterhielt. Ich setzte ein Lächeln auf, obwohl mir gar nicht nach Lächeln zumute war. »Hi, Leon! Was verschlägt dich denn hierher?«
»Hi. Ich wollte mit dir reden.«
Mit zwei Schritten war ich am Küchenschrank und holte eine Tasse heraus. Während ich mir frischen Kaffee einschenkte, Milch und Zucker dazutat, sagte ich: »Ach ja? Und worüber? Immerhin hast du mich gestern aus deiner Wohnung geworfen.« Ganz so leicht wollte ich es ihm nicht machen. Denn eigentlich hatte
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