Frostengel
unterwegs gewesen wäre.«
Leon nickte noch einmal.
»Das heißt, jemand war bei ihr in dieser Nacht. Vielleicht ist Julia tatsächlich einfach ausgerutscht. Doch dann hätte ihr Begleiter doch zumindest Hilfe holen müssen!«
»Hat er aber nicht. Das wäre wohl unterlassene Hilfeleistung«, sagte Leon und nahm meine Hand.
»Im günstigsten Fall. Oder sie hatten Streit und er hat ihr einen Stoß versetzt. Dann wäre es Totschlag«, fuhr ich fort.
»Oder es war nicht bloß unabsichtlich und sie wurde dorthin gelockt …«, meinte Leon und sah mich an.
»Genau. Dann war es Mord«, sprach ich seinen Gedanken aus. Trotz Leons tröstender Anwesenheit lief mir ein Schauer über den Rücken. Mord.
Klar, ich hatte es erwogen, aber nicht ernsthaft geglaubt. Jetzt, da ich es ausgesprochen hatte, rückte die Möglichkeit, dass Julia mit voller Absicht getötet worden war, in bedrängende Nähe.
»Ich verstehe bloß nicht, warum«, sagte Leon. »Sie hat doch niemandem was getan! Warum musste sie sterben?«
Ich legte meinen Kopf an Leons Schulter. Es war Zeit, ihn in alle meine Erkenntnisse einzuweihen, darüber zu reden, gab mir Sicherheit, so hielt ich mich aufrecht. So verhinderte ich, über Julias Tod vollends zu verzweifeln. »Julia hat auf eigene Faust versucht, etwas über Melissas Tod herauszufinden. Sie war davon überzeugt, dass ihr Vater Melissas Geliebter gewesen war, dass er sie – umgebracht hat. Aber das glaub ich nicht. Das passt nicht zu Herrn Mechat! Und selbst wenn es stimmt, in einem bin ich sicher: Er hätte Julia niemals etwas angetan. Auf jeden Fall wollte sie Beweise für seine Schuld sammeln. Dabei muss sie jemandem zu nahe gekommen sein, vielleicht dem wahren Täter. Anders kann ich es mir nicht erklären.«
»Du hast recht. Aber wenn du Julias Vater wirklich auf jeden Fall ausschließt, muss es jemand gewesen sein, der nervös geworden ist, weil Julia Nachforschungen angestellt hat. Jemand, der sich bedroht gefühlt hat.«
»Aber wer?« Ich konnte mir nicht vorstellen, auf wen Julia während ihrer harmlosen Ermittlungen gestoßen sein könnte. In ihrem Tagebuch fand sich bisher jedenfalls kein Anhaltspunkt dazu.
Leon strich mir übers Haar. »Jemand, der Angst davor hatte, dass seine Beziehung zu Melissa bekannt würde – schließlich muss sie ja notgedrungen wegen Melissas Tod eine Menge Dreck aufgewühlt haben. Melissas Eltern hätten sie am liebsten in einen Turm gesperrt, damit kein Typ an sie rankam. Jetzt stell dir vor, wie sie reagiert haben, als sie erfuhren, dass Melissa ein Kind erwartet.«
»Erinnert mich irgendwie an Rapunzel. Nur dass es bei der auch nichts genützt hat, dass die Zauberin sie eingesperrt hat. Sie hat ihren Prinzen doch kennengelernt. Da sieht man halt, wahre Liebe lässt sich nicht verbieten.«
Er verzog das Gesicht. »Ja, bloß, dass Melissas Prinz ein älterer Mann war.«
»Woher weißt du, dass er älter war?« Ich wusste es aus Julias Tagebuch, doch würde Leon mir von seiner Beziehung zu Melissa erzählen? Galt »keine Geheimnisse« auch für ihn?
Er holte tief Luft. »Ich kannte Melissa ziemlich gut. Genau genommen waren wir sogar ein Paar, bis sie mich wegen eines ... dieses älteren Mannes abservierte.« Immer noch hörte ich den Schmerz in seiner Stimme. Der konnte doch nicht nur von Melissas Zurückweisung kommen. Das Ganze lag über ein Jahr zurück. Warum reagierte er jetzt noch so bedrückt?
»Das tut mir leid. Julia hat mal so etwas erwähnt.« Von Julias Tagebuch wollte ich ihm noch nichts erzählen. Nicht, solange ich es nicht fertig gelesen hatte. Mir fiel mein Versprechen ein, keine Geheimnisse vor Leon haben zu wollen. Aber genau genommen handelte es sich um Julias Geheimnisse. Damit brach ich nicht mein Wort, wie ich fand.
Leon seufzte. »Es ist eine längere Geschichte. Ich erzähl sie dir irgendwann mal, aber die Quintessenz ist, dass sie mit mir wegen dieses Kerls Schluss gemacht hat, ich mich sinnlos besoffen habe und es dadurch zu einem Unfall kam.«
»Der, bei dem du dir deine Beinverletzung zugezogen hast?«
Leons Stimme klang belegt, als er sagte: »Ja. Und bei dem mein Bruder gestorben ist.«
Wie furchtbar. Ich streichelte sanft über seinen Rücken.
Eine Weile saßen wir so da und schwiegen. Mit der Zeit merkte ich, dass sich Leon wieder ein wenig entspannte.
»Julia hat mir auch erzählt, dass sie mit einer Freundin von Melissa Kontakt aufgenommen hat. Mit der treffe ich mich am Nachmittag«, sagte ich
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