Frostengel
gemeinsam mit meiner Mutter und ihrem Freund ins Kino gebracht. Wie schräg war das denn? Und dann sollte ich neben ihnen sitzen und ihnen beim Knutschen zusehen? Darauf hatte ich echt keinen Bock. Nicht einmal dann, wenn ich nichts Besseres zu tun gehabt hätte.
Nichts gegen Klaus. Anscheinend tat er meiner Mutter echt gut. Sie hatte in den letzten Tagen nicht wie sonst abends getrunken. Außerdem lachte sie häufiger, interessierte sich wieder für uns, sogar mehr, als mir lieb war.
Zum Glück ließ sie sich schnell abwimmeln. Sie zog die Tür wieder zu und ich widmete mich meiner Lektüre. Langsam merkte ich, dass ich müde wurde, und überlegte, mir den Rest für morgen aufzuheben, doch dann stach mir das Datum ins Auge. Es war der 25. Januar 2012, der Tag, an dem Julia Melissas Leiche gefunden hatte. Elektrisiert setzte ich mich auf. Jede Müdigkeit war wie weggeblasen.
Leon tauchte in Julias Berichten auf. Sie schilderte, wie er ihr geholfen hatte. Ich hatte ihr, als sie mir davon erzählte, nicht so recht geglaubt. Doch jetzt, als ich alles noch mal las und nachdem ich Leon besser kennengelernt hatte, sah ich alles glasklar vor mir.
Der nächste und übernächste Eintrag. Erschüttert klappte ich das Buch zu. Julia hatte ihren eigenen Vater verdächtigt, etwas mit Melissas Tod zu tun zu haben! Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Wie konnte das sein? Niemals. Nicht Herr Mechat. Ich dachte daran, wie er zu mir geeilt war, nachdem ich von Julias Unfall erfahren hatte. Wie er und Frau Mechat mich bei sich willkommen hießen, stets um Julia besorgt gewesen waren. Nie im Leben konnte ich mir das vorstellen. Andererseits gab es so viele Dinge, die man kaum glauben konnte. War es denn wirklich so abwegig, dass Dr. Mechat sich in eine Neunzehnjährige verliebte? Julia schrieb, er hätte schon einmal eine Affäre gehabt. Es gab mir einen Stich, dass sie mir davon nichts erzählt hatte. Noch mehr Geheimnisse. Auch wenn sie mich bloß schonen wollte. Und auch damals war ich nicht für sie da gewesen.
Ich schlug Julias Tagebuch noch einmal auf und las die Passage ein zweites Mal. Ich dachte nach. Nein, Julia musste sich geirrt haben. Es gab bestimmt eine andere Erklärung für all die Indizien, die Julia gegen ihren Vater gesammelt hatte: Dr. Mechats Handschuhe, Melissas Telefonnummer in seinem Handy, die Tatsache, dass Melissa ihn aus heiterem Himmel als Arzt aufgesucht hatte, obwohl sie schon lange nicht mehr hier wohnte. Julia, verdammt! Warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen? Ich hätte dir helfen können, die Wahrheit herauszufinden. Du hättest das nicht alleine durchstehen müssen.
Entschlossen schlug ich das Tagebuch zu. Ich wollte über alles in Ruhe nachdenken. Doch heute schaffte ich das nicht mehr. Von einer Minute auf die andere fühlte ich mich wie ein Luftballon, dem die Luft ausgeht. Ein paar Stunden Schlaf würden mir helfen, meinen Verstand einzusetzen, die Fakten zu analysieren, die Julia zusammengetragen hatte. Ich knipste die Lampe neben meinem Bett aus und zog die Decke bis zu meinem Kinn hoch. Dann lag ich wach und starrte mit offenen Augen in die Finsternis. Ich versuchte es mit Zählen, mit Atemübungen. Nichts davon half. Die Gedanken schlugen in meinem Kopf Purzelbäume und wollten sich einfach nicht bändigen lassen. Um halb eins hörte ich die Wohnungstür zufallen. Geflüsterte Worte, verhaltenes Gekicher. Meine Mutter war heimgekehrt, mit Klaus im Schlepptau. Meine Tür wurde einen Spalt geöffnet und gleich wieder geschlossen. »Sie schläft«, hörte ich gedämpft die Stimme meiner Mutter, dann ein unverständliches Gemurmel von ihm.
Ich drehte mich zum Nachttisch und holte meinen MP3-Player aus der Schublade. Dann stöpselte ich die Kopfhörer in meine Ohren. Daran hätte ich auch schon früher denken können. Ich merkte, wie mein Atem immer ruhiger wurde. Irgendwann senkten sich meine Augenlider von ganz allein. Ich konnte mich an die ersten Takte von »Yours Forever« erinnern, den Rest des Liedes hörte ich nicht mehr.
Ich träumte. Von Julia, die mit mir auf dem Feld entlangging. Es war Sommer und sie lief vor mir her. Ich versuchte ihr zu sagen, sie solle auf mich warten, denn ich wusste genau, ihr würde etwas Schreckliches passieren, doch sie hörte nicht auf mich. Sie lief immer weiter. Plötzlich war sie verschwunden. Ich drehte mich in alle Richtungen, suchte nach ihr. Da sah ich Leon auf der Brücke stehen. Er grinste mich an und winkte, ich solle zu ihm
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