Frostengel
dass sich kaum ein Schüler hier blicken ließ. Wer wollte schon außerhalb der Schule einem Lehrer über den Weg laufen? Na ja, wenn man meiner Schwester glauben schenken wollte, dann wären wohl die meisten Schülerinnen froh gewesen, Steinmenger auch mal privat zu treffen.
Er steuerte direkt auf uns zu. »Guten Tag, meine Damen.« Damit entlockte er Tanja ein Lächeln. »Schön, Sie zu sehen, Herr Steinmenger. Ich hoffe, die Schüler nerven Sie nicht zu sehr.«
»Es geht. Wenn alle so eifrig wären wie ihr beiden, wäre das Unterrichten ein reines Vergnügen.« Er lachte. »Na, dann lasse ich euch mal allein.«
Damit winkte er uns zu und nahm am Nachbartisch Platz.
Die Kellnerin brachte unsere Getränke und meinen Apfelstrudel. »Du wolltest etwas über Melissas Tod erfahren?«, begann Tanja. Ich nickte bloß, weil ich gerade den Mund voll hatte. Der Apfelstrudel schmeckte wirklich gut.
Tanja seufzte. »Wo fange ich am besten an? Die Nachricht von Melissas Selbstmord hat mich kalt erwischt. Sie war nicht der Typ für so etwas. Sie war nie depressiv. Manchmal ein wenig komisch, das ja. Aber wenn man ihre Lebensumstände kannte, verstand man auch, warum sie sich diese Marotten angeeignet hatte. Zum Beispiel hatte sie mit fünfzehn ihren ersten festen Freund. Alle wussten davon, bloß ihre Eltern nicht. Ihnen hat sie von keinem ihrer Freunde erzählt, die sind nämlich total spießig drauf, erzkatholisch halt. Melissa musste jeden Sonntag in die Kirche, durfte nur Röcke anziehen, sogar im tiefsten Winter. Sie durfte nicht zu Partys oder mal einfach so ins Kino.«
Ich verzog das Gesicht. »Die Arme. Und ich dachte, ich hätte Probleme zu Hause.«
Tanja lächelte und fuhr mit ihrer Erzählung fort. »Natürlich fand sie Mittel und Wege, diese … Verbote zu umgehen. ›Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg‹, sagte sie immer. Sie hatte im Grunde ein Doppelleben. Kaum war sie in der Schule, zog sie sich auf dem Klo um. Taschengeld bekam sie nie, aber sie erzählte ihren Eltern, sie bräuchte zehn Euro für einen Schulausflug oder fünf Euro für irgendwas anderes. So sparte sie das Geld für ein paar stylische Klamotten und Schminkzeug zusammen. Natürlich machte sie das nicht zu oft, dumm war sie nicht, sonst wäre das ihren Eltern irgendwann aufgefallen. Jedenfalls hat sie alles in ihrem Spind deponiert.«
»Und nach Unterrichtsschluss hat sie sich wieder die altmodischen Fetzen angezogen, sich abgeschminkt und spielte braves Töchterchen, nehme ich an.«
»Genau. Hin und wieder erzählte sie zu Hause, sie müsse mit mir lernen. Dann durfte sie auch bei mir übernachten.«
»Was ihr aber mit Sicherheit nicht gemacht habt, oder?«
Tanja grinste mich an. »Natürlich nicht! Meiner Mutter erzählten wir, ich würde bei Melissa schlafen. Wir waren echt erfindungsreich, wenn es darum ging, mal eine Nacht nicht zu Hause zu verbringen.«
Irgendwie erinnerte mich Tanja ein bisschen an meine kleine Schwester. Ich war mir bei Corinna auch nicht ganz sicher, dass sie immer bei ihrer Freundin schlief, wenn sie das behauptete. Nur dass Corinna um einiges jünger war als Tanja und Melissa damals.
»Melissa wollte immer, dass wir mal zum Studieren gemeinsam nach Graz gehen würden. Dann wäre sie endlich frei gewesen, hätte ihr Leben so gestalten können, wie sie es sich vorgestellt hatte. Wir fieberten auf unseren Abschluss hin, lernten wie verrückt, damit wir ihn ja nicht verbockten. Im Endeffekt hatten wir beide Supernoten.«
Ich zerteilte das letzte Stück Strudel mit der Gabel, während ich Tanja wie gebannt zuhörte. »Aber Melissa ist nicht mit dir nach Graz gegangen, oder? Warum nicht? Haben sich ihre Eltern doch noch durchgesetzt?« Ich stellte mir vor, wie furchtbar Melissas Leben gewesen sein musste. Und wie schlimm es für sie war, sich ständig verstellen zu müssen und immer das Gefühl zu haben, nicht sie selbst sein zu dürfen.
Tanja lehnte sich ein wenig zurück. »Tja, sie hatte es sich anders überlegt. Sagte sie zumindest, nachdem ich mir den Arsch aufgerissen habe, um für uns eine Wohnung in Graz zu finden.« Sie schnaubte. »Zuerst dachte ich, es sei wegen Leon. Der hatte doch diesen Unfall gehabt, nachdem sie mit ihm Schluss gemacht hatte.«
»Warum hätte sie wegen ihm hierbleiben sollen? Sie wollte doch gar nicht länger mit ihm zusammen sein.«
Tanja trank in einem Zug ihr Glas leer. »Es war ja schließlich auch nicht wegen ihm, das dachte ich bloß im ersten Moment. Es war ein anderer
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