Frostengel
Sie?«
Er hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Es ist leichter, an der Unfallversion festzuhalten. Unfälle passieren. Mir will einfach nicht in den Kopf, dass jemand … Julia …« Dann straffte er die Schultern und setzte sich aufrecht hin. »Theresa, du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass ich den Namen des Vaters von Melissas Baby nie erfahren habe. Sie hat ihn kein einziges Mal erwähnt. Das Einzige, was sie von ihm erzählt hat, war, dass er verheiratet ist und diese Affäre deshalb geheim bleiben müsse. Sie wollte ihm zuerst nicht mal sagen, dass sie schwanger war, aber ich habe ihr zugeredet, es doch zu tun. Nachdem sie keine Ausbildung hatte und Melissa sich sicher war, dass ihre Eltern sie vor die Tür setzen würden, hab ich sie davon überzeugt, wie wichtig es ist, wenigstens Alimente zu bekommen. Es ging ja nicht darum, sich zu bereichern. Sie sollte einfach ihrem Kind das Notwendigste kaufen können.«
»Das hilft mir nicht weiter«, murmelte ich. »Ich hatte gehofft, Sie wüssten den Namen.«
Herr Mechat zuckte die Schultern. »Ich wünschte, ich hätte mehr Informationen. Aber … warte, jetzt fällt mir doch etwas ein. Melissa hatte ein Notizbuch dabei, als sie das letzte Mal bei mir war. Der Einband war aus schwarzem Leder – na ja, es war kein echtes Leder, sondern sah nur so aus. In Silber waren handschriftlich die Initialen MTS daraufgeschrieben. Ich dachte mir noch, was das T zu bedeuten hatte. M für Melissa und S für Schikol, aber das T?«
Mir rieselte es kalt über den Rücken. MTS. Das war doch der Name von dem Typ aus dem Chat gewesen, mit dem ich gesprochen hatte. Ich hielt den Atem an. »Und? Haben Sie herausgefunden, was das T bedeutet?«, brachte ich mühsam hervor. Meine Stimme zitterte. Das war bloß ein komischer Zufall, versuchte ich mir einzureden. Ein riesengroßer Zufall. Was sonst? M für Melissa, S für Schikol. Vielleicht hatte Melissa ja einen zweiten Vornamen. Theresa, wie ich. Tina, Tatjana, Thea, Trudi. Ich ging im Geiste alle weiblichen Namen durch, die mir spontan mit T einfielen. Besonders viele waren es nicht. Da unterbrach Herr Mechat meine Gedanken. »Nein, das nicht«, sagte er. »Aber Melissa meinte, das Notizbuch sei ein Geschenk für ihren Freund, mit seinen Initialen darauf. Sie hatte das Ultraschallbild ihres Babys hineingelegt und wollte es ihm schenken. – Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Julias Vater.
»Ja, mir geht’s gut. Ich glaube, ich muss das alles erst einmal verdauen. Danke für Ihre Hilfe«, sagte ich und stand auf. In meinem Kopf jagte ein Gedanke den nächsten. Dann fand darin nur noch ein einziger Gedanke in ihm Platz: Ich hatte mit MTS Kontakt gehabt. Im Chat. Es war noch gar nicht lange her. Mit Schaudern dachte ich daran, was ich ihm über mich erzählt hatte. Er war so verständnisvoll gewesen. Dieser Mistkerl! Dabei war er wahrscheinlich schuld an Melissas Selbstmord – und womöglich auch an Julias Tod.
Ohne mich von Frau Mechat oder den anderen Gästen zu verabschieden, verließ ich das Haus. Mir fiel ein, dass Leon in der Schule auf mich wartete. Aber erst mal musste ich nach Hause, um den Rest der Tagebuchaufzeichnungen zu lesen. Vielleicht fand ich dort einen Hinweis, wer MTS sein konnte. Immerhin. Von Tanja wusste ich, dass das T wahrscheinlich Thomas hieß. Würde ja auch passen, wenn es der zweite Vorname von Melissas Liebhaber war. Besser als nichts.
Der Fußweg tat mir gut. Ich versuchte, an gar nichts zu denken, meinen Kopf leer zu kriegen, aber das gelang mir nicht. Wie sollte ich bloß die vielen Gedankensplitter sinnvoll ordnen? Es wäre gut, mit jemand zu sprechen. Leon.
Ich holte mein Handy hervor und schrieb ihm eine SMS: Komme nicht mehr in die Schule. Sehen wir uns nachher? Muss mit dir reden. hdl
Nur einen kurzen Moment später kam die Antwort: Ich ruf dich an. hdal
Unwillkürlich musste ich lächeln, als ich Leons Nachricht las. Hab dich auch lieb, schrieb er. Langsam konnte ich meine Schwester mit ihrem Timo verstehen. Das »Hab-dich-auch-lieb« vertrieb für den Moment die sorgenvollen Gedanken.
Völlig außer Atem kam ich zu Hause an, dabei hatte ich gar nicht bemerkt, wie schnell ich gelaufen war. Als ich in unsere Wohnung kam, hätte ich mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was mich tatsächlich zu Hause erwartete. Meine Mutter war nach der Beerdigung heimgefahren. Eigentlich dachte ich, sie würde sich nach dem Desaster mit Klaus betrinken. Doch wie es aussah, hatte sie sämtliche
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