Frostengel
auf die Welt kam.
Jemand hatte Blumen in der Diele arrangiert und ich meinte, die Handschrift meiner Mutter zu erkennen. Es wäre naheliegend gewesen, sie damit zu beauftragen.
»Hat deine Mutter das nicht schön gemacht?«
»Ja, das hat sie.«
Das Erste, was mir auffiel, als ich ins Wohnzimmer trat, waren noch mehr Blumen und Leute, die sich angeregt miteinander unterhielten. Die meisten hatten Brötchen oder Weingläser in der Hand. Nie im Leben wäre ich darauf gekommen, es könne sich hier um eine Trauerfeier handeln, hätten die Gäste nicht vorwiegend schwarze Kleidung getragen. Es sah eher nach einer langweiligen Party aus. Wie konnten sie den Anlass vergessen haben? Julia war tot und es wurde getrunken und gegessen, ja sogar hin und wieder gelacht. Ich holte mir einen Orangensaft und stellte mich abseits an eine Wand. Dort, so hoffte ich, würde mich niemand ansprechen.
Frau Mechat hatte sich zu zwei Frauen gesellt und unterhielt sich mit ihnen. Ich stellte mein Glas ab. Es war an der Zeit, Julias Vater zu suchen. Was ich ihm zu sagen hatte, wäre ein Schock für ihn. Noch einer mehr. Zuerst das Verschwinden, dann die Nachricht vom Tod seiner Tochter. Am liebsten hätte ich meinen Entschluss verworfen, hätte das Ganze für mich behalten. Doch das wäre nicht richtig gewesen. Julia hatte ihre Aufzeichnungen dort hinterlassen, wo nur ich sie finden könnte, im Wissen, dass ich dafür sorgen würde, dass ihr Vater von allem erfährt. Sie selbst hatte es nicht geschafft, ihn mit ihren Vorwürfen zu konfrontieren. Wenn ich noch etwas für sie tun wollte, dann war jetzt der Zeitpunkt gekommen.
Ich fand ihn in der Küche, wo er gerade ein Telefonat beendete. »Theresa, kann ich dir helfen?«, fragte er, als er mich sah.
Ich atmete tief ein. »Herr Mechat, ich würde gerne unter vier Augen mit Ihnen sprechen.«
Er konnte seine Überraschung über meine Bitte nicht verbergen, doch sofort sagte er: »Ja, sicher. Komm, wir gehen in mein Arbeitszimmer.«
Wenig später saß er hinter seinem Schreibtisch und sah mich abwartend und wohlwollend an. Ich setzte mich ihm gegenüber. Wahrscheinlich dachte er, ich bräuchte seinen Rat. Verdammt, ich hätte mir zuerst überlegen müssen, was ich sagen und wie ich anfangen sollte. Vielleicht wäre mein Hals dann nicht so trocken und ich würde die richtigen Worte finden.
»Also, worum geht es, Theresa? Hast du ein Problem? Kann ich etwas für dich tun?« Ich schüttelte den Kopf. Tu es, feuerte ich mich an. Sag’s ihm!
»Ich habe Julias Tagebuch gefunden«, brachte ich hervor.
Er sah mich verständnislos an.
»Sie hatte es im Baumhaus versteckt. Der Camcorder war übrigens auch da.«
Herr Mechat schüttelte den Kopf. »Ja, aber warum? Wir hätten niemals …«
Mit festem Blick sah ich Herrn Mechat an. »Das weiß ich. Aber Julia hatte dafür einen guten Grund.« Nun kamen die Worte ganz leicht über meine Lippen. »Sie hat geglaubt, Sie und Melissa hätten eine Affäre. Julia dachte, Sie wären der Vater von Melissas Baby gewesen.«
Herr Mechat riss die Augen auf und schüttelte heftig den Kopf. »Wie, um Himmels willen, ist sie auf so eine Idee gekommen? Wie kommt sie denn auf so etwas?«
»Wie sie darauf kommt? Stimmt es denn nicht, dass Sie vor zwei Jahren schon mal eine Affäre hatten? Julia hat davon geschrieben.«
Herr Mechat war aufgestanden und presste sich die Hände vor die Augen. Stockend sprach er weiter: »Ich weiß nicht, wie …« Er seufzte. »Ja. Das stimmt.« Er ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und sackte in sich zusammen. Dann blickte er mich an. »Wir haben versucht, Julia mit unseren Problemen nicht zu belasten. Sie hat’s wohl trotzdem mitbekommen.« Herr Mechat sprach leise und fast wie zu sich selbst. »Vera und ich hatten uns auseinandergelebt. Keine Ahnung, wann das passiert ist. Wir hatten uns einfach nicht mehr viel zu sagen. Jeder von uns war mehr mit der Arbeit beschäftigt, als uns guttat. Auf einem Kongress lernte ich jemanden kennen. Sie ist ebenfalls Ärztin und auch verheiratet. Mehrere Monate lief es, wir telefonierten, dann trafen wir uns öfter. Wir beiden wollte keine geheime Beziehung, aber ich wollte auch nicht meine Familie verlassen. Also machten wir Schluss. Ich habe Vera alles erzählt und sie war verletzt, bestürzt, gekränkt. Schließlich beschlossen wir, dass wir diese Krise als Chance sehen wollten. Wir gingen zur Eheberatung. Seither verstehen wir uns besser. Vera hat mir verziehen.«
»Und
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