Frostengel
Leben wieder in den Griff bekomme.
Stück für Stück lasse ich meine Ängste hinter mir. Ich weiß, dass es Rückschritte geben wird. Davon darf ich mich nur nicht demotivieren lassen. Manchmal wünsche ich, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Fragt sich nur, wie weit? Wäre alles anders gekommen, wenn ich mich gegen dieses Videoprojekt entschieden hätte? Oder hätte es ausgereicht, den Tag, an dem ich Melissa fand, zu Hause zu bleiben? Das Schwierige ist, dass alles irgendwie ineinandergreift und es nichts bringt, zu fragen, was wäre, wenn … und trotzdem tue ich genau das. Die ganze Zeit über. Genauso die Frage nach dem »Warum ausgerechnet ich?«. Hätte nicht jemand anderes Melissas Leiche finden können?
Auf manche Fragen ist es einfach, Antworten zu finden. Man benutzt seinen Menschenverstand oder beruft sich auf Erfahrungen. Man googelt oder schaut in einem Lexikon nach. Aber auf manche gibt es keine eindeutigen, befriedigenden Antworten – und auf einige Fragen gibt es gar keine. Das zu akzeptieren, fällt mir schwer. Ich war schon als Kind eine, die meinen Eltern Löcher in den Bauch gefragt hat und immer alles genau wissen wollte.
Ich werde jetzt nach Hause gehen und meine Arbeit für Englisch schreiben. Dann habe ich morgen und übermorgen Zeit, mich um die Interviewfragen zu kümmern. Vielleicht fallen mir sogar solche ein, die sich beantworten lassen.
Kapitel 20
Leon blieb bis nach dem Abendessen. Es war irgendwie schön, ihn dabeizuhaben. Ich könnte mich bestens daran gewöhnen und ich wusste nicht, ob ich das gut finden oder Angst davor haben sollte. Mein Leben wurde gerade ziemlich umgekrempelt. Zu viel Neues war über mich hereingebrochen und ich konnte nur wenig davon beeinflussen. Natürlich freute es mich, Leon zu gefallen. Es war schön, mit ihm zusammen zu sein, ihn zu küssen, zu spüren und mich auf ihn verlassen zu können. Andererseits hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Glück ein flüchtiger Besucher bei mir war. Kaum lief etwas gut, ließ die nächste Katastrophe nicht lange auf sich warten. Wenn ich einen Fünfeuroschein fand, verlor ich eine halbe Stunde später garantiert das ganze Portemonnaie. Freute ich mich darüber, dass ich einen Zug auf den letzten Drücker erwischte, kam ich trotzdem zu spät, weil der Zug auf der Strecke Verspätung hatte. Und jedes Mal, wenn ich das Gefühl hatte, meine Mutter hätte sich endlich geändert, passierte irgendetwas und sie fiel in ihre Trinkerei zurück. So hatte ich es schon etliche Male erlebt. Auch jetzt lauerte ich darauf, dass irgendetwas passierte. Etwas Schlimmes, das alles wieder aus den Angeln heben würde. Vielleicht war ich deshalb so vorsichtig, weil es für mich immer erträglicher war, nicht zu viel zu erwarten und vorbereitet zu sein.
Als ich Leon zum Abschied küsste, nahm ich mir ganz fest vor, nicht immer so schwarz zu sehen. Wenn ich immer nur daran dachte, was passieren konnte, würde ich alles Schöne, das ich gerade erlebte, nicht richtig genießen können. Hatte Mama das gemeint, als sie sagte, ich solle mehr im Hier und Jetzt leben?
Kaum war Leon weg, vermisste ich ihn bereits. Meine Mutter sah sich irgendeine romantische Liebesschnulze im Fernseher an. Länger als fünf Minuten hielt ich den Film nicht aus. Corinna hatte sich in ihr Zimmer verzogen und die Musik aufgedreht. Einen Moment überlegte ich, zu ihr zu gehen, doch sie hatte einen Zettel an ihre Tür geklebt, dass sie nicht gestört werden wollte. Also wäre es jetzt der richtige Zeitpunkt, mich weiter mit Julias Tagebuch zu beschäftigen. Wenn ich damit durch war, konnte ich mir Gedanken um die Abizeitung machen. Ich würde Julia würdig vertreten, nahm ich mir vor. Solche Aufgaben waren ihr wichtig gewesen. Halbe Sachen gab es für sie nicht. Ich konnte mich erinnern, wie viele Gedanken sie sich gemacht und wie viel Zeit sie für die Zeitung investiert hatte. In all ihren Unterlagen, die ich durchgesehen hatte, waren keine Aufzeichnungen über die Interviews gewesen. Hatte sie überhaupt schon mit Lehrern gesprochen? Am Montag auf dem Heimweg nach der Schule hatten wir Ideen gesammelt, welche Fragen sie stellen könnte. Dienstag und Mittwoch hatten wir kaum Zeit gehabt, miteinander zu reden. Julia war an beiden Tagen nach dem Unterricht wegen der Abizeitung länger geblieben, sodass ich allein heimgegangen war. Wir hatten abends zwar kurz telefoniert, aber nur über Belangloses gesprochen. Am Donnerstag fing ich bereits an zu kränkeln. Ich
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