Frostengel
fühlte mich wie erschlagen, sodass ich froh war, schnell nach Hause zu kommen, und am Freitag blieb ich nur bis nach der zweiten Stunde, weil es mir elendig ging und Julia mich eigenhändig nach Hause tragen wollte, wenn ich nicht sofort nach Hause fuhr. Seufzend nahm ich das Tagebuch aus der Schublade. Unschlüssig drehte ich es in der Hand. Es waren nur noch ein paar Seiten übrig. Ich hätte gerne noch mehr gelesen. Doch selbst tausend Seiten mehr hätten mir Julia nicht wieder zurückgebracht.
Würde ich noch etwas Wichtiges finden? Etwas, das mir helfen würde, ihren Tod zu verstehen? Etwas, das einen Hinweis darauf gab, wer dieser geheimnisvolle MTS war?
Julia schrieb von Hoffnung. Sie schrieb davon, dass sie ihre Angst in den Griff bekommen wollte. Ich war sicher, dass sie auf dem richtigen Weg gewesen war. Wie schrecklich, dass sie in dem Glauben gestorben war, ihr Vater sei ein Ehebrecher gewesen und hätte schuld an Melissas Tod gehabt.
Als Julia schließlich merkte, dass sie die ganze Zeit über den Falschen verdächtigt hatte, war es zu spät gewesen. Was musste in ihr vorgegangen sein, als sie erkannte, dass sie auf dem Holzweg war? Hatte sie es bereut, ihren Vater beschuldigt zu haben? Mit Sicherheit. Warum hatte sie bloß mit niemandem darüber gesprochen? Weil der Verdacht so ungeheuerlich war, weil ihr keiner geglaubt und sie nicht ernst genommen hätte. Im Nachhinein betrachtet konnte ich ihr Schweigen verstehen. Ich hätte nicht anders gehandelt.
Ich knipste das Licht aus, es war bereits nach Mitternacht. Ich war so aufgewühlt, dass ich lange nicht in den Schlaf finden konnte.
Als in der Früh mein Wecker klingelte, kam es mir so vor, als wäre ich gerade erst eingeschlafen. Ich wäre am liebsten liegen geblieben. Aber das kam natürlich nicht infrage. Corinna knallte ihre Tür zu, trampelte in die Küche. Meine Mutter sagte etwas zu ihr, sie trampelte wieder zurück. Der morgendliche Wahnsinn im Hause Kleistner. Im Bad blickte ich in den Spiegel und streckte meinem Spiegelbild die Zunge raus. Genauso wie ich mich fühlte, sah ich auch aus. Übernächtigt, zerzaust, dunkle Ringe unter den Augen. Ich klatschte mir reichlich Wasser ins Gesicht und bürstete mein Haar. Viel besser wurde es davon auch nicht, aber immerhin hatte ich das Gefühl, einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Und den würde ich heute auch brauchen.
Wie immer verließ Mutter vor uns die Wohnung. Ich trank Kaffee und machte mir ein Wurstbrot zum Mitnehmen, es würde ein langer Schultag werden.
Corinna war untypisch wortkarg und in sich gekehrt. Ich fragte mich, ob sie mit Timo gestritten hatte, wollte sie aber nicht darauf ansprechen. Sie würde mir von selbst davon erzählen, wenn sie Lust dazu hatte. Ich war in der Früh sowieso froh, in Ruhe gelassen zu werden. Im Bus schloss Corinna sich ihren Freundinnen an und von einem Augenblick auf den nächsten merkte man nichts mehr von ihrer schlechten Laune.
Auch aus meiner Stufe waren ein paar Leute im Bus, doch ich begnügte mich nur mit einem halbherzigen Winken und blieb ganz vorne bei der Tür stehen. Ich hasste diese überfüllten Schulbusse. Morgen, nahm ich mir vor, würde ich auf den Bus verzichten. Ich würde Julias und meine Tradition fortführen und wieder zu Fuß gehen. Manches würde nie wieder so sein wie früher, aber einige Dinge durften auch so bleiben, wie sie waren, ohne dass man dabei ein schlechtes Gewissen bekommen oder wehmütig werden musste. Julia war ja schließlich zu der gleichen Erkenntnis gelangt.
Als ich aus dem Bus stieg, wartete Leon bereits vor der Schule auf mich. »Guten Morgen!«, begrüßte er mich mit einem strahlenden Lächeln.
»Morgen«, brummte ich. Wo um Himmels willen nahm er bloß in aller Frühe diese gute Laune her?
Er hob eine Braue. »Du bist ja ein richtiger Morgenmuffel.«
»Ich hab nicht gut geschlafen. Außerdem ist ›morgens‹ einfach immer zu früh«, versuchte ich mich zu rechtfertigen.
»So, so. Zu früh also. Wofür genau? Bist du heute etwa nicht um sechs Uhr aufgestanden und joggen gegangen?«
»Heute ausgerechnet nicht. Normalerweise steh ich um halb sechs auf und schwimme fünfzig Bahnen, um in die Gänge zu kommen. Aber nur unter der Woche. An den Wochenenden reicht es, wenn ich um sieben aufstehe.« Gegen Leons Witze hatten kurze Nächte und miese Laune einfach keine Chance. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen.
»Komm«, sagte ich und nahm seine Hand. »Gehen wir rein. Vielleicht kann ich
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