Frostengel
streichelte mit dem Daumen über seinen Handrücken.
»Ich bin nicht gerade stolz auf das, was an dem Abend passiert ist.«
»Das ist egal. Es gibt auch einiges, worauf ich nicht stolz bin.«
Leon blickte mich an. »Ach ja? Was ist das?«
»Lenk nicht ab. Jetzt bist du dran.«
»Gut, aber das nächste Mal will ich deine schwarzen Geheimnisse erfahren … abgesehen von dem, dass du gerne mal die Polizei auf unschuldige Mitbürger ansetzt.« Ich gab ihm einen leichten Klaps auf die Schulter. Aber nun wollte ich endlich wissen, was bei diesem Motorradunfall passiert war.
»Ich habe dir ja erzählt, dass Melissa kurz vorher mit mir Schluss gemacht hat. Ich dachte, der Grund dafür sei mein Druck auf sie gewesen, mich doch endlich ihren Eltern vorzustellen. Ich wollte diese Heimlichkeiten einfach nicht mehr. Dann hatte ich Geburtstag. Zu meiner Fete im Bierfassl kam auch Melissa. Ich hatte gedacht, das sei ein Zeichen dafür, dass sie es sich anders überlegt hatte. Aber sie sprach die meiste Zeit mit anderen. Irgendwann wurde es mir zu blöd und ich stellte sie zur Rede. Sie sagte, sie sei nur gekommen, weil sie sich mal amüsieren wollte. Sonst hätte sie kaum dazu Gelegenheit. Dann ließ sie mich stehen. Ein Freund von mir hatte die Abfuhr mitbekommen und brachte mir ein Bier. Wir tranken. Zuerst das Bier, dann härtere Sachen. Zum Schluss war ich so voll, dass irgendjemand meinen Bruder anrief, er solle mich abholen.«
Leons Stimme klang belegt, als koste ihn jedes Wort große Überwindung. Wahrscheinlich war es tatsächlich so. Nun verbarg er sein Gesicht in beiden Händen, sprach aber weiter. »Jakob, das war mein Bruder, kam natürlich, obwohl er für diesen Abend eigentlich andere Pläne hatte. Er musste alle Überredungskünste aufbringen, um mich davon abzuhalten, auf mein Motorrad zu steigen. Ich weiß noch, dass ich mich mit ihm stritt, weil ich das Bike nicht stehen lassen wollte, und mich weigerte, ins Auto zu steigen. Schließlich erklärte er sich bereit, mich auf meinem Motorrad heimzubringen.«
Leon stockte. Tränen schimmerten in seinen Augen, als er mir auch noch den Rest der Geschichte erzählte. »Ich saß hinten und machte irgendwelche blöden Spiele. Jakob mahnte mich mehrmals, ich solle mich festhalten. Doch ich hörte nicht auf ihn. Ich weiß noch, dass ich in dem Moment das Gefühl der totalen Freiheit gespürt hatte. Ich fühlte mich wie ein Vogel und hob die Arme, als wolle ich fliegen. Jakob drehte sich nur einen kurzen Moment um, nur eine Sekunde – aber die reichte, um die Kontrolle zu verlieren. Das Nächste, woran ich mich erinnern konnte, waren meine Eltern, die neben meinem Bett im Krankenhaus saßen. Meine Mutter schluchzend, mein Vater stumm. Da wusste ich noch nicht, dass Jakob tot und beerdigt war. Ich hatte drei Wochen im Koma gelegen und es grenzte an ein Wunder, dass ich überlebt hatte.«
Nachdem Leon fertig war, lehnte ich nur an ihm, ohne ein Wort. Der einzige Trost, den ich ihm geben konnte, war meine Nähe.
Ich war nicht die Einzige, die einen lieben Menschen verloren hatte. Ob er auch das Gefühl dieser Leere kannte? Es kam mir manchmal vor, als wäre ich unvollständig. So als würde man ein 1000er-Puzzle zusammenbauen, und wenn man fertig war, sah man, dass ein Teil fehlte. So ging es mir, wenn ich an Julia dachte. Sie würde in Zukunft in meinem Leben immer dieses fehlende Puzzlestück sein.
»Ich habe so oft darüber nachgedacht, was gewesen wäre, wenn ich an diesem Abend nicht getrunken oder bei einem Freund gepennt hätte. Jakob würde noch leben«, sprach Leon weiter.
»Du gibst dir die Schuld.«
»Ich gebe sie mir nicht, ich habe sie und sie wird mich mein Leben lang begleiten. Da nützt kein Schönreden. Tatsachen sind Tatsachen und lassen sich nicht verleugnen.«
Ganz leise, sodass ich ihn kaum verstand, setzte er hinzu: »Eine Weile habe ich an Selbstmord gedacht – wie Melissa.«
Ich drehte mich zu ihm und bemühte mich, mein Entsetzen über seine Worte nicht zu zeigen. »Aber jetzt? Denkst du immer noch daran, dich … umzubringen?«
Leon schüttelte den Kopf. »Nein, nicht mehr. Aber das Gefühl, an Jakobs Tod schuld zu sein, das hab ich immer noch.«
Ich drückte ihn an mich. Eine Weile saßen wir da. Ich war froh, dass Leon mir alles erzählt hatte.
»Soll ich dir auch von den Dingen erzählen, auf die ich nicht stolz bin?« Es kostete mich Überwindung, ihn zu fragen, weil ich wusste, dass er Ja sagen würde. Aber er war so offen
Weitere Kostenlose Bücher