Frostengel
allgemein, nachdem wir mit dem Interview durch waren. Recherche für eine Kurzgeschichte, behauptete ich. Ich glaube, es war ihm ziemlich unangenehm, und er sagte, da könne er mir leider auch nicht weiterhelfen. Wie denn auch? Er war nie in solch einer Situation. Ich lächelte ihn an und argumentierte, er könne doch mal in so eine Situation geraten. Schließlich wird er von den meisten Schülerinnen umschwärmt wie das Licht von den Motten. Was müsse also passieren, dass er so einer Versuchung nachgäbe. Er meinte, das wäre absolut unvorstellbar für ihn. Es handelt sich dabei um Schutzbefohlene, für die er Verantwortung trägt. Man dürfe doch die Autorität, die man als Lehrer hätte, nicht ausnutzen.
Und dann sagte er allen Ernstes, dass es ihm leidtut, wenn ich romantische Gefühle ihm gegenüber hege!!! Na toll! Jetzt glaubt er, ich wäre in ihn verliebt. Natürlich hab ich ihm gleich gesagt, dass das nicht stimmt. Er hat meine Frage wohl falsch interpretiert. Da klopfte er mir auf die Schulter. »Dann ist ja gut!«, sagte er. Irgendwie wirkte er tatsächlich erleichtert, aber ob er mir wirklich geglaubt hat?
Na ja, jetzt bin ich genauso schlau wie zuvor. Von Steinmenger habe ich mir, ehrlich gesagt, mehr erwartet. Wahrscheinlich war es eh eine Schnapsidee, ihn damit zu behelligen. Vielleicht hätte ich doch lieber mit offenen Karten spielen sollen, schließlich ist er ja der Vertrauenslehrer. Aber ich habe Angst, die Affäre meines Vaters und all das an die große Glocke zu hängen. Was wird dann mit unserer Familie passieren, wenn die Leute erst mal Bescheid wissen?
Sobald ich mit meinem Eintrag hier fertig bin, mache ich mich auf den Weg ins Grätzel. Ich habe mir überlegt, ob ich ohne Theresa überhaupt hingehen soll. Es macht mir ein schlechtes Gewissen, dass ich mich amüsiere, während sie krank im Bett liegt. Doch das ist Blödsinn. Sie würde mir zureden auszugehen. Außerdem habe ich mir selbst versprochen, mich nicht länger zu verkriechen. Dazu gehört, auch alleine unterwegs zu sein. Ein wenig mulmig ist mir schon zumute. Mir ist klar, wie oft Theresa in letzter Zeit an meiner Seite war, wie häufig sie mich gehalten und getröstet hat, wenn ich eine Panikattacke hatte. Ihre bloße Gegenwart hat dafür gesorgt, dass ich mich sicherer fühlte. Aber nun ist es Zeit, den nächsten Schritt zu wagen.
Ob ich es schaffe? Wer weiß, aber vorgenommen habe ich es mir – und ich bin zuversichtlich. Weil die letzte Woche so gut lief und ich das Gefühl habe, dass endlich alles gut wird. Nach und nach. Und wenn ich eines Tages die Beweggründe meines Vaters verstehe, wenn ich weiß, was in ihm vorgegangen ist, warum er getan hat, was er tat, und unterlassen hat, was er unterließ – vielleicht kann ich ihm dann vergeben. Weder heute noch morgen. Aber irgendwann.
Ich habe vieles verloren: das Urvertrauen in meinen Vater; meine naive Vorstellung, dass Väter keine Fehler machen; den Glauben, dass alles Schlimme nur bösen Menschen passiert. Doch ich habe auch etwas gewonnen: Ich habe gelernt, dass Väter auch nur Menschen sind und ihre Schwächen und Fehler haben. Außerdem habe ich bemerkt, dass Zeit wirklich Wunden heilt. Ich hätte es nicht gedacht. Aber es stimmt. Und wenn schon nicht heilt, dann legt sie eine Decke über die Verletzungen, nach dem Motto: »Aus den Augen, aus dem Sinn« – und irgendwann vergisst man sie tatsächlich. Vielleicht nicht ganz. Aber sie sind nicht mehr allgegenwärtig und bestimmen alles Handeln und Denken. An diesem Punkt bin ich gerade angelangt. Wenn noch ein bisschen Zeit verstreicht, werde ich ein annähernd normales Leben führen können.
Kapitel 22
Ich lag bei Leon auf der Couch. Er hatte mir ein Kissen und eine Decke gebracht und sich zu mir gekuschelt. Zusammen sahen wir uns eine DVD an. Der Film lief noch, doch Leon war neben mir eingeschlafen. Ich hörte sein tiefes, regelmäßiges Atmen und selbst im Schlaf hielt er mich umarmt, als wolle er mich nie wieder loslassen. Ich drehte mich zu ihm um, betrachtete sein Gesicht.
Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, löste ich mich aus Leons Armen. Doch der stechende Schmerz in meinen Rippen ließ mich aufstöhnen und Leon wurde wach. Verschlafen sah er mich an.
»Wie geht es dir?«, fragte er. Er strich über mein Haar, vorsichtig darauf bedacht, meinen schmerzenden Hinterkopf nicht zu berühren.
»Ich glaube, ich muss mal aufstehen«, stöhnte ich.
Leon erhob sich und streckte mir die Hände entgegen, um mir
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