Frostfluch: Mythos Academy 2 (German Edition)
die ganze Zeit war ich mir bewusst, dass mich ein Paar brennender roter Augen verfolgte. Sie sprangen genau wie ich von Erinnerung zu Erinnerung und beobachteten mich ständig. Ich wusste, zu wem sie gehörten: Loki. Seine Schnitter waren das Fenster des bösen Gottes in die Welt der Sterblichen, ein Weg, wie er über sein Gefängnis hinausblicken konnte. Ich spürte förmlich, wie er mich aus Prestons Geist düster anstarrte. Ich erklärte mir wieder und wieder, dass die Augen mir nichts anhaben konnten, dass Loki an einem Ort saß, von dem aus er mir nicht wehtun konnte. Aber der Gedanke beruhigte mich nicht besonders.
Ich wollte schon aufgeben, Prestons Hand loslassen, die Augen öffnen und Metis sagen, dass ich nichts Sinnvolles finden konnte, als plötzlich ein Bild von Preston in meinem Geist aufstieg, in dem er ein Paar Handschuhe anzog. Es war dieselbe Erinnerung, die ich empfangen hatte, als ich in der Nacht im Bergdorf vor dem Sonnwend-Café seinen Handschuh berührt hatte. Das erschien mir seltsam, wenn man bedachte, was für gewalttätige und verstörende Bilder ich bis dahin gesehen hatte. Neugierig konzentrierte ich mich auf diese Erinnerung und hob sie aus den Tiefen seines Gehirns wie ein Bergarbeiter auf der Suche nach Gold. Dann schärfte ich das Bild und konzentrierte mich. Plötzlich tauchte ich vollkommen in die Erinnerung ein und sah alles aus Prestons Sicht.
Er saß auf dem Fahrersitz eines Geländewagens und zog die Handschuhe über. Sobald er damit fertig war, sah er im Rückspiegel eine Person an, die hinten im Auto saß. Das Innere des Wagens lag im Schatten, also konnte ich nicht erkennen, wer es war, aber ich hatte den Eindruck, es könnte ein Mädchen in meinem Alter sein. Wer auch immer sie war, Preston kannte sie – und hatte Angst vor ihr. Wenn er sie auch nur ansah, lief ihm schon die kalte Furcht den Rücken hinunter. Seltsam. Wer sollte einem Schnitter wie Preston solche Angst einjagen?
»Bist du dir sicher, dass sie noch auf dem Revier ist?«, fragte das Mädchen mit sanfter, leiser Stimme.
»Ich habe vor fünf Minuten angerufen und gefragt«, antwortete Preston. »Sie ist noch dort. Siehst du? Da kommt sie.«
Preston drehte den Kopf, und ich sah, über wen er sprach. Braunes Haar, violette Augen, wunderschönes Lächeln. Meine Mom trat aus der Hintertür des Polizeireviers.
O nein , dachte ich, weil ich irgendwie wusste, was als Nächstes geschehen würde. Nein, nein, nein.
Meine Mom überquerte den Parkplatz mit großen Schritten und stieg in ihr Auto, genau wie in dem Traum, den ich im Skiresort gehabt hatte. Ich hatte mich gefragt, woher diese schreckliche Erinnerung gekommen war, und jetzt wusste ich es. Es war ein Eindruck, ein Gefühl gewesen, das mit Prestons Handschuh verknüpft war und das mein Unterbewusstsein über meine Psychometrie aufgefangen hatte, auch wenn ich nicht gleich ein Bild gesehen hatte.
»Ich dachte, du hättest gesagt, ihre Tochter wäre bei ihr«, meinte Preston. »Wir könnten sie beide heute Abend töten und die ganze Sache hinter uns bringen.«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Dann ist die Tochter eben nicht hier. Und? Wir haben unsere Befehle. Wir schnappen uns die Mutter, befragen sie über den Dolch und finden heraus, wo sie ihn versteckt hat. Das ist heute Nacht wichtig. Und jetzt los.«
Dolch? Welcher Dolch? Worüber sprachen sie? Warum sollte meine Mom einen Dolch besitzen, und wieso sollte sie ihn verstecken?
Meine Konzentration wankte, und das Bild wurde für einen Moment unscharf, bevor ich mich wieder einklinken konnte. Jetzt stand der Geländewagen mit laufendem Motor und ausgeschalteten Scheinwerfern an einer dunklen Kreuzung. Preston starrte aus dem Seitenfenster.
»Da kommt sie. Mach dich bereit«, befahl das Mädchen vom Rücksitz. »Jetzt … los!«
Preston rammte den Fuß aufs Gaspedal, und der Geländewagen raste aus der Dunkelheit auf das Auto meiner Mom zu. Sie sah es nicht einmal kommen. In meinen Ohren hallte das Geräusch von berstendem Glas und sich verbiegendem Metall wider, als wäre ich wirklich dort gewesen, während Preston ihr Auto mit seinem rammte.
Ich keuchte, und wieder verschwamm die Erinnerung. Jetzt lag meine Mom außerhalb des Autos. Sie lag auf dem Rücken auf dem Asphalt. Es hatte angefangen zu nieseln, aber der Regen konnte das Blut nicht fortwaschen, das ihren gesamten Körper bedeckte – ihre Beine, ihre Brust, ihr Gesicht. An ihren Armen standen die Enden von gebrochenen Knochen
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