Frostfluch: Mythos Academy 2 (German Edition)
Altertümer war das größte Gebäude der Akademie und nahm einen guten Teil des oberen Hofes ein. Sie bildete die oberste Spitze des Sterns. Die Bibliothek hatte das meiste von allem – die meisten Stockwerke, die meisten Balkone, die meisten Türme, die meisten Zinnen. Alles zusammen erinnerte an eine unheilvolle Burg.
Aber besonders unheimlich fand ich die Statuen.
Sie standen auf allen Gebäuden von Mythos, aber auch davon hatte die Bibliothek die meisten, sei es nun darauf, darum oder darin – mehr als alle anderen Gebäude zusammen. Greifen, Wasserspeier, Gorgonen, Drachen, ein Minotaurus und andere mythologische Kreaturen, deren Namen ich nicht mal kannte. Die Statuen bedeckten die Bibliothek von der unteren Galerie, die sich einmal ganz um das Gebäude zog, bis zum Dach mit seinen Türmen und ihren schwertgleichen Spitzen. Und es waren nicht einfach nur Steinfiguren. Nein, die Statuen wirkten alle, na ja, gewalttätig, mit großen Augen, größeren Zähnen und rasiermesserscharfen Klauen.
Vielleicht lag es an meiner Gypsygabe, aber ich hatte immer das Gefühl, dass die Statuen mich beobachteten und jeden meiner Schritte mit ihren offenen, wütenden Augen verfolgten. Genau wie die Sphinxe am vorderen Tor. Als müsste ich sie nur berühren, und die kalten Monster würden plötzlich zum Leben erwachen, aus ihren steinernen Hüllen springen und mich in Stücke reißen.
Es war kein schönes Gefühl.
Ich riss den Blick von den beiden Greifen los, die rechts und links der Steinstufen saßen, und eilte in die Bibliothek, einen kurzen Flur entlang und durch die geöffneten Flügeltüren, die in die Bibliothek führten. Statt den breiten Hauptgang zu nehmen, vorbei an den Studiertischen und den Büros, bog ich ab und ging in den ruhigen, hinteren Teil des riesigen Raumes.
Mein Platz, wie ich ihn inzwischen nannte, war nichts Besonderes. Einfach nur ein Stück Boden zwischen den hohen Bücherregalen, die alle Ebenen der Bibliothek füllten. Einst hatte hier eine Vitrine gestanden, eine von hunderten, die in der ganzen Bibliothek verteilt und mit Artefakten gefüllt waren – Waffen, Schmuck, Kleidung, Rüstung und mehr. Die verschiedensten Götter, Göttinnen, mythologischen Helden, Schurken und Monster hatten diese Dinge über die Jahre benutzt. Jetzt war die Vitrine verschwunden, in Stücke geschlagen bei meinem Kampf gegen Jasmine Ashton. Vic allerdings, das Schwert, das darin ausgestellt gewesen war, lag sicher in meinem Zimmer.
Die leere Stelle, an der die Vitrine gestanden hatte, war nicht das einzige Interessante hier. Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute zu der Person auf, wegen der ich hergekommen war: Nike, die griechische Göttin des Sieges.
Na ja, es war natürlich nicht wirklich sie – nur eine fast zehn Meter hohe Statue aus weißem Marmor. Um die Galerie im zweiten Stock zogen sich Statuen von allen Göttern und Göttinnen aus allen Kulturen der Welt. Sie waren jeweils durch schlanke, kannelierte Säulen voneinander getrennt und blickten hinunter ins Erdgeschoss der Bibliothek und auf die Schüler, die dort lernten. Alle Götter, die man sich vorstellen konnte, waren hier vertreten. Nordische wie Balder, Thor und Freya, griechische wie Ares, Zeus und Apollo. Ägyptische wie Anubis, Ra und Bastet. Und Tonnen mehr, von denen ich, bevor ich nach Mythos gekommen war, noch nie etwas gehört hatte.
Der einzige Gott, der in diesem kreisrunden Pantheon nicht vertreten war, war Loki, der nordische Schelmengott des Chaos. Stattdessen klaffte eine leere Stelle, wo seine Statue hätte stehen sollen. Loki hatte in den alten Tagen schlimme, schlimme Dinge angestellt. Er hatte zum Beispiel den Tod eines anderen Gottes verursacht, hatte versucht, die Weltherrschaft an sich zu reißen, und blablabla. Man bekommt keine Statue, wenn man das Äquivalent eines Comic-Superschurken ist.
Ich hatte Nike vor ein paar Wochen getroffen, während der ganzen Jasmine-Geschichte. Die Göttin war mir in der Bibliothek erschienen und hatte mich gebeten, ihr Champion zu werden, ihr Held hier in der Welt der Sterblichen, der ihr dabei half, gegen die Schnitter des Chaos und andere Bösewichter zu kämpfen.
Die Statue sah genauso aus wie Nike an dem Abend, als sie mir erschienen war: Haar, das ihr bis über die Schultern fiel. Eine lange, fließende Tunika, die ihren starken, schlanken Körper verhüllte. Ein Lorbeerkranz auf dem Kopf und gefiederte Flügel auf dem Rücken. Die Göttin war die Verkörperung des Sieges,
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