Frostglut
welkte jetzt und zerbröselte wie eine tote, trockene Rose, während gleichzeitig noch mehr Sorgen, Angst und Verzweiflung in mir aufblühten.
Ich tat, wozu er mich aufgefordert hatte, ging um den Tisch und glitt auf den Stuhl auf der anderen Seite – der Seite mit den Ketten. Dicke Metallfesseln lagen auf dem Tisch, zusammen mit einem Paar Handschellen. Weitere Ketten lagen auf dem Boden, sodass man gleichzeitig die Hände und die Beine eines Gefangenen fesseln konnte.
Sergei griff nach den Ketten auf dem Tisch. Ich zuckte in meinem Stuhl zusammen und presste mich gegen den rohen Stein der Lehne. Zuletzt hatte Preston diese Ketten getragen. Ich wusste genau, was ich spüren und sehen würde, wenn sie meine Haut auch nur leicht berührten – den unendlichen Hass des Schnitters auf mich. Ich hatte im Amphitheater genug Hass gespürt. Noch mehr wollte ich wirklich nicht ertragen müssen.
»Legen Sie mir die nicht an«, flüsterte ich. »Bitte.«
Sergei sah mich an, als hätte mein leises, kehliges Bitte ihn überrascht, aber er legte die Ketten wieder ab. Ich hielt die Hände so weit wie möglich von dem Metall entfernt und stellte sicher, dass ich weder den Tisch noch den Stuhl mit der bloßen Haut berührte. Es war schon schlimm genug gewesen, in Prestons Geist einzudringen und mich durch seine schrecklichen Erinnerungen zu graben, die all die Leute zeigten, die er verletzt, gefoltert und umgebracht hatte. Ich wollte nicht auch noch Bilder davon empfangen, wie der Schnitter mich hasserfüllt über den Tisch hinweg anstarrte. Damit konnte ich einfach nicht umgehen – nicht im Moment.
Sergei zog sich zurück und stellte sich neben Inari, der sich leise mit Raven unterhielt. Ich fragte mich, was jetzt wohl passieren würde. Würde der Prozess sofort beginnen? Erhielt ich die Chance, mich zu verteidigen? Wie sollte ich dieses schreckliche Missverständnis nur aufklären? Wie sollte ich das Protektorat davon überzeugen, dass ich Loki nicht absichtlich befreit hatte? Dass Vivian mich genauso an der Nase herumgeführt hatte wie alle anderen auch? Diese und Hunderte Fragen mehr hallten in meinem Kopf wider, aber ich hatte keine Antworten – nicht mal eine einzige.
Allerdings musste ich nicht lange warten, sodass mir nicht allzu viel Zeit blieb, um mir Sorgen zu machen und zu grübeln. Fünf Minuten später öffnete sich die Gefängnistür erneut mit einem schrecklichen Knarzen, und Linus trat in den Raum, gefolgt von Alexei, Professor Metis, Nickamedes und Trainer Ajax.
Trainer Ajax drehte sich um, streckte eine Hand aus und hielt so jemanden davon ab, hinter ihm den Raum zu betreten. »Tut mir leid, Logan. Weiter kann ich dich und deine Freunde nicht kommen lassen. Mach dir keine Sorgen. Es wird nicht lange dauern.«
Hinter Ajax sah ich Logan im Flur stehen. Ein paar pinkfarbene Funken blitzten in der Luft neben ihm, was mir verriet, dass auch Daphne und wahrscheinlich Carson dort draußen standen.
Der Spartaner stellte sich auf die Zehenspitzen und sah über Ajax’ Schulter zu mir. »Gypsymädchen!«
»Es geht mir gut!«, rief ich zittrig zurück. »Es ist okay!«
Logan, Daphne und Carson redeten durcheinander und schrien mir zu, dass alles gut werden würde, aber Ajax ignorierte sie und schloss einfach die Tür, sodass ihre Stimmen abgeschnitten wurden.
Für einen Moment herrschte Stille.
Dann schüttelte Linus den Kopf und wandte sich Nickamedes zu. »Ich hatte gehofft, dass du ihn vor Schwierigkeiten bewahren könntest, wenn ich ihn hier zur Schule schicke. Aber anscheinend ist dir das nicht gelungen.«
Nickamedes versteifte sich bei diesen Worten. Der Bibliothekar war Logans Onkel mütterlicherseits. Tatsächlich sah Nickamedes mit seinem schwarzen Haar und den blauen Augen aus wie eine ältere, ernsthaftere Ausgabe von Logan.
Linus starrte ihn weiterhin böse an. »Larenta wäre wirklich enttäuscht von dir, weil du Logan nicht besser beschützt hast.«
Wut blitzte in den Augen des Bibliothekars auf, dann ballte er die Hände zu Fäusten und trat einen drohenden Schritt vor, als wollte er Linus schlagen. Dieses Gefühl kannte ich nur zu gut.
»Wage es nicht, Larenta mit in diese Sache hineinzuziehen«, blaffte Nickamedes. »Ich verstehe immer noch nicht, was meine Schwester je an dir gefunden hat, du aufgeblasener, arroganter …«
»Das reicht.« Metis trat vor und legte eine Hand auf Nickamedes’ Schulter. »Das reicht. Von euch beiden. Untereinander zu streiten wird uns nicht
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