Frostherz: Mythos Academy 3 (German Edition)
qualvollen Haltung gefangen gewesen und hätte Probleme, wieder auf die Beine zu kommen. Langsam senkte sich sein Arm, sein Kopf bewegte sich an die richtige Stelle, und seine Brust hob sich, als er auf die Beine kam. Bei jeder Bewegung knackten und knirschten seine Knochen wie im Takt zum Knistern der Fackeln. Jedes einzelne Geräusch ließ mich die Zähne zusammenbeißen, und ich sackte immer weiter in mich zusammen, um mich so klein wie möglich zu machen. Ich hatte bereits einem Gott Auge in Auge gegenübergestanden. Nike hatte mich inzwischen schon zweimal besucht. Aber das hier – das war etwas anderes.
Denn dies war Loki, und er strahlte pure Bosheit aus.
Schließlich richtete sich der böse Gott zu seiner ganzen Größe auf – über zwei Meter. Er stand mit dem Rücken zu mir, aber sein Kopf drehte sich erst nach links, dann nach rechts. Seine Wirbel knackten, während er den Kreis der Schnitter anstarrte. Dann hob der Gott die Hände in die Luft und entließ einen Schrei in die Luft – einen wilden Schrei, der mit all dem Hass und der Wut aufgeladen war, die ihn in den Jahrhunderten seiner Gefangenschaft am Leben gehalten hatten. Ein Schrei, der das blutige Chaos und das Versprechen auf Tod in sich trug, von dem die Schnitter in all den Jahren geflüstert hatten.
Es war das schrecklichste Geräusch, das ich je gehört hatte.
Schon der leiseste Nachhall davon hätte ausgereicht, meinen Schädel zum Pulsieren zu bringen. Seine volle Macht ertragen zu müssen sorgte dafür, dass mir heiße Tränen über die Wangen liefen und mein gesamter Körper schmerzte, als würde der Schrei des Gottes mir das Fleisch von den Knochen pellen. Vielleicht war es ja so. Egal wie, ich hatte nicht das Gefühl, dass es noch schlimmer kommen konnte – bis der Gott sich umdrehte und ich ihn zum ersten Mal wirklich sah.
Es war … er war … grauenhaft .
Ich hatte in meinen Mythengeschichtsbüchern Zeichnungen von Loki gesehen, aber sie hatten es nicht geschafft, das wahre Selbst des Gottes einzufangen. Ein stechend blaues Auge, ein starkes Kinn, ein phantastischer Wangenknochen, eine Adlernase, Haut wie Alabaster. Eine Hälfte seines Gesichtes war perfekt, wunderschön, fast traumhaft, als wäre er eine der Statuen in der Bibliothek der Altertümer, die zum Leben erwacht war. Sein Haar glich einem Fluss aus Gold und berührte knapp seine rechte Schulter.
Doch die linke Seite des Gesichts war einfach nur … geschmolzen. Wie heißes Kerzenwachs, das zusammengelaufen war und all die ursprünglichen, geraden, sauberen Linien seiner Züge zu einem finsteren, hässlichen und absolut verzerrten Brei verunstaltet hatte. Statt blau war das Auge auf dieser Seite seines Gesichtes rot – schnitterrot. Sein Wangenknochen sah aus wie ein angeklebtes Stück Fensterkitt, und seine Nase wirkte wie ein Haken, der versuchte, sich in seine Wange zu bohren. Jeder Teil seiner Haut, der nicht glatt und glänzend war, war mit Pockennarben übersät, und das Haar auf dieser Seite des Kopfes war schwarz, mit roten Strähnen, die zwischen den verfilzten, angesengten Locken glänzten.
Loki war das Entsetzlichste, was ich je gesehen hatte, und nun war der Gott aus seinem Gefängnis befreit. Und es war meine Schuld, alles meine Schuld. Leute würden sterben, weil ich dämlich genug gewesen war, mich von dem Schnittermädchen benutzen zu lassen, um den Helheim-Dolch für sie zu finden. Irgendwie gelang es mir, die heiße, bittere Galle wieder zu schlucken, die mir in die Kehle stieg.
Vivian trat vor, dann sank sie vor ihm auf ein Knie nieder. »Mein Gebieter«, sagte sie mit ehrfürchtiger Stimme. »Endlich ist es uns gelungen, Euch zu befreien, und nun, nach so vielen Jahren, erwarten wir Eure Befehle.«
Loki musterte das Schnittermädchen auf dem Boden vor ihm. »Erhebe dich, mein Champion, denn du hast mir gut gedient. Zusammen werden wir dafür sorgen, dass ein weiteres Mal Chaos in der Menschenwelt regiert.«
Trotz des entstellten Gesichts war die Stimme des Gottes tief und glatt mit einer kehligen Note. Eine sanfte, verführerische Stimme. Die Art von Stimme, die eine Person fast zu allem überreden konnte. Obwohl ich wusste, wie böse er war, obwohl ich genau wusste, zu welchen schrecklichen Taten er seine Schnitter ermuntert hatte, war seine Stimme schön, rein und süß. Ich fühlte, wie sich dieser hypnotische Klang um mich schlang und versuchte, in mein Bewusstsein einzudringen, genau wie Vivian es mit ihrer Telepathie getan hatte.
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