Frostherz
wirkt über weite Strecken wie ein einziger Drogenrausch. Ich kann dir ja mal die DVDs leihen.«
»Ich seh schon – du willst mich einfach nicht auf deinem Sofa haben.«
»Genau«, sagte er und stand auf. »Und jetzt muss ich gehen.«
Schmollend sah sie ihm hinterher. Wie ein Küken, das aus dem Nest gefallen ist, dachte er unwillkürlich. Irgendwie tat sie ihm leid.
Als er auf der Altstadtgasse stand, schmeckte er die Bitterkeit der Lüge. Er hatte nicht den leisesten Schimmer, wohin er nun gehen sollte.
Donnerstag, 13.05.
In den Schuppen gegangen. Im Werkzeug des Vaters herumgesucht.
Ein Hammer. Schön schwer. Er liegt perfekt in meiner Hand, wie dafür geschnitzt und geschmiedet. Aber: Ich muss ihm damit zu nahe kommen.
Eine Säge. Schön scharf. Wie gut ließen sich damit Gliedmaßen abtrennen. Aber: Ich muss ihn dafür fesseln, ihn berühren.
Ein Beil. Schön groß. Es würde nur Sekunden dauern, bis er gefällt wäre. Aber: Es ginge zu schnell. Er soll doch merken, was ihm widerfährt.
Ein Seil. Ein starkes, festes Seil. Ich könnte ihn in eine Schlinge treten lassen und er würde nach oben, unter die Decke sausen, mit dem Kopf nach unten hängend. So lange, bis sich alles Blut in seinem Schädel gestaut hätte und die Augen hervorquöllen, die Zunge heraushinge. Eine eklige Leiche. So soll es sein. Eklig, wie sein ganzes Leben. Wie mein ganzes Leben.
Eine halbe Stunde oder eine ganze im Schuppen gekauert. Jeden Dreckspartikel des steinernen Bodens betrachtet, die bilden Hieroglyphen, die mir eine Botschaft überbringen. Du schaffst das nicht. Du widerlicher Loser. Nicht schwer zu entziffern. Jeder kann es lesen. Es steht doch auch auf meiner Stirn geschrieben in blutroten Lettern. Loser. Abschaum. Wicht. Alle haben sich von mir abgewendet. Einmal schon sitzen geblieben, der Dummkopf. Ein zweites Mal droht. Er ist faul, dumm und faul, sturköpfig und dumm. Loser, elender. Das Leben verschissen, na bravo, in so kurzer Zeit. Selbst schuld. Selbst schuld. Wer sonst? Wieso hab ich mich auch nicht gewehrt, selbst schuld. GANZ ALLEIN MEINE SCHULD.
3. Kapitel
Alles okay?«, fragte Johann, legte den Spiegel auf das kleine Tischchen voller Zeitschriften zurück und stand auf.
»Wie immer«, antwortete Anne, nahm ihren lindgrünen, dünnen Trenchcoat von der Garderobe und legte ihn sich über den Arm. Nein, Papa, es ist nicht zu kalt, dachte sie und hoffte auf Telepathie.
»Nimm das nicht als Selbverständlichkeit«, sagte Johann mahnend. »Du weißt, wie schnell es gehen kann. Ich bin einfach froh zu wissen, dass dir nichts fehlt. Jetzt steht nächste Woche nur noch der Ultraschall bei Doktor Weiß an und das Screening beim Hautarzt, dann hast du es für das nächste halbe Jahr schon wieder geschafft.«
Anne nickte nur und schob sich vor Johann aus der Frauenarztpraxis. Es wäre ja schon peinlich gewesen, mit dem eigenen Vater zum Gynäkologen zu gehen, um sich die Pille verschreiben zu lassen, aber ein halbjährlicher Check auf irgendwelche Unterleibserkrankungen war noch viel peinlicher. Doch davon wollte ihr Vater nichts hören. »Denk an deine Mutter! Es ist nur zu deiner eigenen Sicherheit«, wurde er nicht müde zu erklären.
Missmutig schob Anne eine Viertelstunde später den Einkaufswagen durch den Supermarkt. Ausnahmsweise begleitete sie ihren Vater heute. Sie war froh, wenn sie es nicht musste. Denn egal, nach welchem Lebensmittel sie griff, es war nie das richtige. So wie jetzt diese großen leuchtend roten Erdbeeren, bei deren Anblick ihr das Wasser im Munde zusammenlief.
»Stopp!«, unterbrach Johann ihre Bewegung auf das Plastikpack mit den Früchten zu. »Die sind aus Spanien. Total verseucht. Lauter Pestizide. Ich bring dir morgen welche aus dem Bioladen mit, versprochen.«
Sie wusste, dass er das Versprechen halten würde. So wie immer. Das war ja das Schlimme. Er tat alles für sie. Ob sie wollte oder nicht.
Auf der Autofahrt summte er leise vor sich hin. Das hatte er seit Wochen nicht getan. Seit die Großmutter gestorben war. Anne kniff angestrengt die Augen zusammen, dann fasste sie sich ein Herz.
»Papa«, sagte sie mit ihrer einschmeichelndsten Stimme. »Darf ich nach der Schule morgen noch ein wenig in der Stadt bleiben? Ich brauch dringend eine neue Hose. Oder einen Rock.«
Johann schenkte ihr einen verwunderten Seitenblick. »Wir hatten uns doch geeinigt, dass es das Komfortabelste ist, du bestellst dir Sachen zum Anziehen im Internet. Bisher hat doch immer alles prima
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