Frostherz
gepasst.«
»Ja, schon… aber...« Sie brach ab.
»Am Samstag können wir zusammen ein wenig bummeln gehen, wenn du möchtest. Über den Wochenmarkt, auf ein Eis bei Giorgio oder ausnahmsweise auch mal eine Pizza. Okay?«
Anne starrte aus dem Autofenster. Fünf Mädchen in kurzen Hosen und knappen bunten Tops standen an der Ampel. Kicherten, fuhren sich durchs Haar. Eine strich sich mit einem Lipgloss hektisch über die Lippen. Von der anderen Straßenseite johlten zwei Jungs zu ihnen hinüber.
»Was wird eigentlich aus dem Haus?«, fragte Anne.
»Mach dir keine Sorgen darum. Das kläre ich demnächst.« Johann stellte das Autoradio an. Der ultimative Hinweis, dass er nicht weiter mit ihr darüber reden wollte.
»Wirst du es verkaufen?«
»Irgendwann. Noch ist nicht die Zeit.«
»Und solange steht es einfach leer rum?«
»Es wird ihm nicht wehtun, dem Haus, sei nicht albern. Möchtest du etwa, dass wir in die alte Bruchbude einziehen? Was meinst du, was man da alles renovieren muss. Dafür haben wir definitiv kein Geld.«
»Dann verkauf es doch gleich. Dann haben wir wieder Geld.«
»Das lass meine Sorge sein, wirklich, Anne. Wie geht es mit dem Singen voran?« Anne schaltete vom Info- auf den Popsender um.
»Bitte«, sagte Johann genervt, drehte den Sender zurück und bremste gleichzeitig ein wenig kräftiger als nötig.
»Aber wenn wir mehr Geld hätten, könnte ich vielleicht doch auf die Klassenfahrt Ende Juni mit.«
Johann legte den Arm auf Annes Rückenlehne und fuhr mit Schwung in die Parklücke vor ihrem Haus. Er stellte den Motor ab und sah Anne durchdringend an. »Du weißt, dass es nicht ums Geld geht. Nicht nur. Eine Klassenfahrt – nach Venedig! Mit dem Bus! Denk an das Unglück in der Schweiz im letzten Frühjahr. 22 Kinder tot. Nur wegen einer Woche Skifahren. Was ist dir lieber? Eine Woche Venedig oder…?«
»Schon gut, Papa«, sagte Anne und stieg aus dem Auto aus. Sie griff nicht nach den Einkaufstüten. Er hätte sie diese sowieso nicht tragen lassen.
»Aber heute! Heute kommst du mit«, sagte Cornelius und Anne fragte sich langsam, wie viele Variationen zu diesem Spruch ihm noch einfallen würden.
»Es geht nicht«, sagte sie seit Tagen.
»Langsam glaube ich, du wirst als Haussklavin gehalten.« Das Lächeln in seinen Mundwinkeln sprang nicht auf die Augen über, die heute mal ihre natürliche Farbe aufwiesen. »Kann ich dann vielleicht mitkommen und wir trinken bei dir Kaffee? Ich brauche dringend jemanden, der mich Franz-Vokabeln abhört.«
»Tee«, sagte Anne. »Einen Tee im Garten. Und wir lernen echt. Aber jetzt bitte – ich muss den Bus erwischen. Komm um drei, okay? Holzäckerweg 2d. Das letzte Haus in der Reihe.« Noch bevor Cornelius etwas sagen konnte, spurtete sie los.
»Lerne heute ab 15.00 Uhr im Garten, Wetter ist so schön«, schrieb sie als Zusatz in ihre mittägliche SMS. Dann starrte sie an der Unterlippe nagend aus dem Fenster. Sie achtete kaum auf die Aussicht, die sie schon 1000-, 10.000-Mal gesehen hatte. Braune Mauern, rote Mauern, weiße Mauern, die meisten alt, sehr alt und recht gut gepflegt. Ein paar Kuppen und Erhebungen. Sie wusste, an welcher Stelle der Fluss aufblitzte. Die Engstelle, wenn der Bus das Stadttor passierte, der kleine Hubbel, der die Straße bergauf markierte in Richtung der Gartensiedlung, in der das Eckreihenhaus stand, das seit 17 Jahren ihr Zuhause war. Sie musste unbedingt vermeiden, dass er Cornelius zu Gesicht bekam. Am besten, sie nahm um kurz vor drei eine Mülltüte – oder besser noch ihren Papierkorb –, um einen Grund zu haben hinauszugehen. Dann würde sie ihn noch vor der Tür abfangen und von hinten direkt in den Garten schicken. Was war nur in sie gefahren, Cornelius zu sich nach Hause einzuladen? Mitschülerinnen waren gelegentlich bei ihr gewesen, nicht wirklich häufig, aber so zwei-, dreimal pro Halbjahr kam das schon vor. Sie lernten dann zusammen oder erarbeiteten ein Referat. Meistens erarbeitete Anne. Die Mädchen – sie kamen immer zu zweit, als traue sich niemand allein in das etwas dunkle, von zähen, breiten Kiefern zugewachsene Haus – lenkten vom Thema ab, kicherten oder betrachteten unverhohlen neugierig Annes Zimmer. Wo kein Poster hing von Michel Teló oder Deichkind, sondern eines von Ronaldo Villazón, dem mexikanischen Opernsänger, und David Fray, dem französischen Pianisten, der so gebeugt vor dem Flügel saß, als wolle er in die Tasten hineinkriechen. Und ganz besonders verstörend
Weitere Kostenlose Bücher