Frostherz
empfanden sie sicher das Plakat mit dem blassen, bläulichen Mädchengesicht, das von Sandkörnern gepudert schien und halb von einer Plastikfolie verdeckt war – das Bild eines Mädchens, das offensichtlich tot war. Anne hatte ein einziges Mal versucht zu erklären, dass es ein Still aus der Serie Twin Peaks war und Laura Palmer zeigte, die tote Hauptfigur der Serie, um deren Ermordung sich alles drehte. Ihre Klassenkameradinnen hatten sich schnell wieder dem Thema des Referats zugewandt.
Schon um kurz nach zwei bereitete Anne in der Küche einen Kräutertee zu. Sie goss ihn in der Thermoskanne auf, stellte diese zusammen mit einer Tasse und einer Schüssel mit Dinkel-Hafer-Keksen auf ein Tablett und brachte beides hinaus. Die zweite Tasse würde sie später holen. Wenn sie Glück hatte, würde er es gar nicht bemerken. Sie rückte den Terrassentisch und die Bank so auf dem Rasen zurecht, dass die Wohnzimmerkamera ihren Rücken erfassen würde. Aus der kleinen Gartenhütte, die das schmale Rechteck des Gartens nach hinten hinaus vor neugierigen Blicken schützte, holte sie einen alten Klappstuhl und stellte diesen gegenüber der Bank auf, sodass Cornelius in Richtung Haus schauen würde. Er wäre außerhalb des Bildausschnitts, das wusste sie. Um die Nachbarn rechts machte sie sich keine Sorgen. Zum einen hielt der gut zwei Meter hohe Palisadenzaun ihre Blicke ab, zum anderen war das Rentnerpaar sowieso meist auf Reisen – jetzt im Mai natürlich sowieso. Anne musste Cornelius nur daran hindern, das Haus betreten zu wollen. Warum hatte sie ihm nicht gleich gesagt, er solle durch das Gartentor kommen? Daran müsste sie beim nächsten Mal unbedingt denken. Beim nächsten Mal, mein Gott, was dachte sie da? Jetzt musste sie dieses eine Mal erst glücklich hinter sich bringen. Ihre Finger fühlten sich feucht an, ihr Bauch grummelte nervös. Noch nie war ein Junge bei ihr zu Besuch gewesen. Sie hatte noch nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, was oder wer er für sie war. Ein Schulfreund. Ein Freund? Intuitiv spürte sie, dass sie ihm vertrauen konnte. Wollte. Prickelte es? Manchmal, ein wenig. Ein ganz klein wenig. Ganz, ganz klein.
Um zehn Minuten vor drei musste sie sich zügeln, nicht ständig auf die Uhr zu schauen. Um drei Minuten vor drei nahm sie den Abfalleimer aus dem Bad und aus ihrem Zimmer und ging vor die Tür. Von Cornelius war nichts zu sehen.
»Bitte, sei pünktlich«, betete sie. »Bitte, bitte, bitte.«
Sie drückte den Abfall in der Tonne ein bisschen zurecht, bückte sich nach abgefallenem Laub, das neben dem Müllhäuschen lag, und stopfte es ebenfalls in das Behältnis. Sie richtete sich auf und sah die Straße entlang. Gleich würde drinnen das Telefon läuten, sie meinte, es schon zu hören. Sie ging zurück in Richtung Haustür. Die Straße war, soweit sie das sehen konnte, noch immer leer. Da die Reihenhäuser am Ende eines Wendehammers lagen, konnte er nur aus einer Richtung kommen. Anne fasste sich ein Herz und brachte die Mülleimer zurück an ihren Platz. In der Küche ließ sie kurz das Wasser laufen und wusch sich die Hände. Das sollte er gesehen haben. Sie verließ den Raum und ging zurück Richtung Haustür, die sie offen gelassen hatte.
»Hallo? Jemand zu Hause?«
Annes Herz schlug bis zum Hals, in großen Schritten ging sie Cornelius entgegen. Er stand halb in der Tür, halb im Haus. Sie schob ihn ganz hinaus, zog die Tür hinter sich zu und den Schlüssel ab, der noch im Schloss steckte.
»Nette Begrüßung – komme ich ungelegen?« Cornelius grinste breit.
»Ich dachte…«, stotterte Anne und ihr wurde erst jetzt klar, über wie unendlich viele Eventualitäten sie bisher nicht nachgedacht hatte. »Ich dachte, ich zeig dir erst mal das Drumrum um unser Haus.« Sie zog ihn am Ärmel mit sich fort.
»Auch mal ’ne Idee«, lachte er und folgte ihr bereitwillig. Während sie um das Haus herumgingen, bemerkte Anne aus den Augenwinkeln, dass er sein Fahrrad nicht direkt vor dem Haus abgestellt, sondern am Pfosten der rot-weiß gestreiften Parkwarntafel am Wendepunkt der Straße abgeschlossen hatte. Sehr gut. Nach wenigen Metern blieb sie bereits wieder stehen.
»Ist das nicht toll?«
Hinter dem Wendehammer, hinter den Reihenhäusern begann weites Feld. Und weil die Gartensiedlung auf einer der vier Kuppen lag, die den Ort umgaben, sah man unterhalb des Feldes die ganze Stadt vor sich liegen. Der Fluss in seiner gewundenen Bahn glitzerte metallisch, die Spitzen von Dom
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