Frostherz
sie noch enger an sich.
Ihr Vater machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich will, dass du rauskommst«, versuchte er es ein letztes Mal. »Jetzt! Dann passiert auch nichts. Komm! Raus!«
Anne winselte und wand sich, aber Cornelius gab nicht nach. Schließlich drehte sich Johann Richtung Parkausgang, ließ die Schultern tief hängen und schlurfte davon. Erst als er ganz außer Sichtweite war, ließ Cornelius sie los. Tränen liefen über ihr Gesicht. Cornelius wurschtelte ein zerknittertes Taschentuch aus einer Innentasche seines Blazers und hielt es ihr hin. Sie schnaubte laut.
»Anne, das ist krank! Das hast du nicht verdient!«, sagte er. Sie starrte auf den Boden. Sie wollte nichts mehr hören.
»Er wird mich umbringen«, flüsterte sie dann.
»Nein, wird er nicht«, antwortete Cornelius. »Komm, ich weiß, wie wir ihn besänftigen. Beeil dich.«
Als sie keine Viertelstunde später vor Annes Haus ankamen, hallten die Glockenschläge des Doms zu ihnen hoch, es war genau elf Uhr. Im Haus war es dunkel.
»Haben wir ihn echt überholt?«, fragte Anne fassungslos.
»Scheint so.« Cornelius grinste endlich wieder. Er zahlte das Taxi und sie stiegen aus.
»Soll ich warten, bis er da ist?«
Anne nickte. Ohne sich zu unterhalten, saßen sie auf dem Mäuerchen vor dem Haus. Natürlich hatte Anne einen Schlüssel und hätte hineingehen können, aber sie wollte nicht. Sie wollte wenigstens noch ein paar Momente die süße Nachtluft einatmen.
»Ich glaube, wir müssen mit dir ein Revoluzzer-Training machen«, scherzte Cornelius. »Ich lass mir ein paar nette Sachen einfallen, okay?«
»Du glaubst doch nicht, dass er mich in den nächsten Wochen noch mal irgendwohin gehen lässt.«
»Dann haust du einfach ab.«
»Mann, versteh doch.« Wie einfach war es plötzlich, die ganze Wahrheit auszusprechen. »Er überwacht mich ständig. In jedem Zimmer des Hauses sind Kameras installiert. Von der Kanzlei aus kann er jederzeit erkennen, wo ich gerade bin und was ich mache.«
Cornelius schüttelte den Kopf, wieder und immer wieder.
»Das gibt’s nicht!«
»Doch. Das gibt’s!«
»Du musst dich wehren, Anne! Das kann er nicht machen.«
»Wie soll ich mich denn wehren? Er will ja nur mein Bestes. Er will mich nicht auch noch verlieren. So wie meine Mutter. Es ist zu meiner eigenen Sicherheit.«
»Nein, ist es nicht! Er will dich einsperren, besitzen! Das ist Kindesmissbrauch!«
Anne verschränkte die Arme vor der Brust. Doch bevor Cornelius weiterreden konnte, sahen sie die Scheinwerferlichter eines dunklen Wagens näher kommen. Cornelius presste wütend die Lippen aufeinander. Anne sah zu Boden, bis sie die Autotür sich öffnen hörte.
Johann sagte kein Wort. Cornelius grinste ihn gequält an.
Anne stand auf. Den zerrissenen Ärmel ihrer Bluse versteckte sie hinter dem Rücken. »Hallo, Papa«, sagte sie und ging auf ihn zu. »Warst du auch unterwegs heute Abend?«
»Kurz in Omas Haus, entschuldige die Verspätung«, sagte er ruhig. »Hattest du einen schönen Abend?«
Sie nickte. »Danke, Cornelius«, wandte sie sich dem Jungen zu. »Es war sehr nett.«
Er lächelte noch immer. »Hoffentlich bald mal wieder!«
Sie ging sofort ins Bad. Das Gesicht im Spiegel wirkte ratlos, als wisse es nicht, welchen Ausdruck man in so einer Situation annehmen sollte. Amüsiert – weil sie ihren Vater ausgetrickst hatte? Oder reumütig – weil sie ihren Vater ausgetrickst hatte? Als sie ihm »Gute Nacht« sagte, saß er im dunklen Wohnzimmer auf der Sofakante und starrte in den nächtlichen Garten hinaus. Auf dem alten Plattenspieler lief eine Schallplatte. »I hit the city and I lost my band, I watched the needle take another man, gone, gone, the damage done«, sang eine nasale, rauchige Stimme. Neil Young, erkannte sie. Das hörte er immer, wenn er besonders unglücklich war. Er nickte kurz, als er ihren Gruß hörte, erwiderte aber nichts. Schnell ging sie in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie setzte sich auf ihr Bett. Durch das Fenster fiel fahles Mondlicht. Das Zimmer sah blass aus. Die honiggelben Holzmöbel – Schreibtisch, Regal, Bett – mit den abgerundeten Kanten, der beige Bettvorleger. Die Bilder ihrer Mutter über dem Schreibtisch, auf dem Wandbrett daneben ein kleines Väschen mit einer Rose darin, die sie jede Woche erneuerte. Langsam ließ sie sich zurücksinken in ihre lindgrüne Bettwäsche. Der Schlaf wollte nicht kommen. Sie starrte den Mond an. Sie wagte es nicht, die losen Enden ihrer Gedanken zu
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