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Frostherz

Frostherz

Titel: Frostherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Broemme
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fassen, die wie Drachenschnüre verheddert waren. Sie wollte nur schlafen. Aber es ging nicht. Hellwach lag sie da. Dachte an Cornelius. An ihren Vater. Daran, dass es so nicht weitergehen konnte. Dass sie mit ihm reden musste.
    Als die ersten Spuren von Helligkeit am Himmel aufzogen, schlief sie ein. Es war ein traumloser, schwerer Schlaf, der ihren Körper wie mit Eisenplatten niederdrückte.
    Sonntag, 30.05.
    Und am Sonntag geht es grad lustig bei uns zu. Da spielen meine Eltern heilige Familie und wollen einen Ausflug mit uns machen. Heißa und Hoppsassa. Nach der Kirche dürfen wir mit ihnen in den Zoo gehen oder eine schöne Burg besichtigen oder bekommen ein leckeres Eis. Ich kotze auf den Teppich und sie schauen mich mit großen runden Augen an und flüstern, was hat denn der Junge, was hat er bloß? Und erst als ich ein zweites Mal kotze, lassen sie mich in Ruhe. Früher, sagen sie, früher war er so ein lieber Bub, so zart und sanft und still und leise. Und was für eine schöne Stimme er gehabt hat und sie sind stolz auf die Worte, die ihnen wieder einfallen, auf die Melodien, die sie summen.
    Wenn fromme Kindlein schlafen gehn,
an ihrem Bett zwei Englein stehn,
decken sie zu, decken sie auf,
haben ein liebendes Auge drauf.
    Innerlich singe ich mit, ich schreie und gröle und kreische, bis ich ganz heiser bin vom Schweigen.
    Wenn fromme Kindlein schlafen gehen,
an ihrem Bett die Teufel stehn,
greifen zu und legen sich rauf,
haben ein quälendes Auge drauf.
    Und wenn ich sie frage, ob es den Teufel gibt, dann sagen sie, ich soll aufhören mit diesem Kinderkram, diesen Ammenmärchen, und wenn ich ihnen sage, aber nein, ich bin ihm schon begegnet, dem Teufel, dann schicken sie mich aus dem Zimmer. So geht es zu bei uns, immer hübsch ordentlich alles, nur unter den Teppichen nicht. Da liegt meterhoch der Dreck.

5. Kapitel
    Der Sonntag verlief schweigend. Johann ging ihr aus dem Weg, sprach nur das Nötigste. Nach dem Frühstück – Anne fühlte sich wie zerschlagen – machten sie dennoch ihren üblichen Rundgang, ein Ritual, das noch zu Lebzeiten ihrer Mutter eingeführt worden war und dem diese mit viel Tapferkeit, so lange es ging, gefolgt war. Vielleicht, um der kleinen Tochter einen letzten Rest von Normalität vorzuführen. Anne und Johann hatten später während dieser Spaziergänge, die nun meist zum Grab der Mutter führten, viel über sie gesprochen. Nicht über ihren Tod, aber Johann hatte kleine Episoden aus ihrem gemeinsamen Leben erzählt, als müsse auch er sich immer und immer wieder vergewissern, dass es Irene tatsächlich gegeben hatte. In den letzten Jahren waren die Themen jedoch andere geworden, oberflächlicher. Anne spürte, dass sich ihr Vater nicht mehr über die wesentlichen Dinge unterhielt, damit sie keine Fragen stellte. Aber heute, heute hätte sie ihn fragen müssen. Ihr Herz klopfte vor Aufregung und ihr Mund war ganz trocken. Wie rohe Fleischbrocken lagen die Worte auf ihrer Zunge und sie wollte sie so gerne ausspucken, schaffte es aber nicht. In ihren Gedanken waren die Sätze klar und silbrig glänzend. In der Welt hatten sie keinen Platz.
    »Anne, bitte«, sagte ihr Vater plötzlich vorwurfsvoll und da merkte sie erst, dass sie mit einem Ast auf zarte Baumsprösslinge eingeschlagen hatte, die den Waldboden eben erst durchbrachen. Sie ging ein wenig schneller, ein paar Schritte vor ihm und er setzte nichts daran, mit ihr mitzuhalten.
    Die Nacht auf Montag schlief sie wieder besser, doch auf den Biologieunterricht in der ersten Stunde konnte sie sich trotzdem kaum konzentrieren. Sie starrte den Lehrer an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Sie verstand, warum er bei den Mitschülern so unbeliebt war. Er wirkte verknöchert, wie ein Fossil. Wahrscheinlich war er gerade mal Anfang 50, aber das Asketische ließ ihn älter aussehen. Straff gespannt die sonnengebräunte Haut über der Adlernase, tief die Furchen um die strahlend blauen Augen, verkniffen der Mund mit den sehr geraden Zähnen und den schmalen Lippen. Und jetzt bekam sein Blick etwas Raubtierhaftes, als er sich zur Tür drehte, durch die Cornelius hereinkam. Zehn Minuten zu spät.
    »Ach, der Herr Rosen bequemt sich auch schon zum Unterricht«, spottete der Lehrer und zückte seinen kleinen roten Kalender, in den er neben den Noten auch jede Missetat seiner Schüler notierte, was gnadenlos in die mündliche Beurteilung einfloss.
    »Mein Fahrrad war kaputt«, gab Cornelius zur Entschuldigung vor. »Ich musste

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