Frostherz
ich mit niemandem über all das reden werde, aber jetzt ist sie tot und ich glaube, noch länger ein Geheimnis daraus zu machen, ist nicht gut. Vielleicht wäre alles anders geworden, wenn ich damals schon geredet hätte. Aber ich habe nicht gewagt, mich ihr zu widersetzen. Dein Vater hat mir einmal erzählt, dass sie ihm den Mund mit Seife ausgewaschen hat, weil er nach seinem Bruder fragte. Danach hat er das nie wieder getan. Ich war ihre einzige Freundin – ich wollte sie nicht im Stich lassen und habe sie respektiert, wie sie war. Und zu mir war sie immer gut. Wie stand sie mir bei, als mein Friedrich vor sechs Jahren gestorben ist.« Auch in Hedis Augen standen jetzt Tränen.
»Dann hat er also diesen Anstecker getragen?«
Hedi nickte.
Anne nahm ihn vom Tisch und steckte ihn sich an. »Den werde ich jetzt tragen. Es soll sein Erbe sein. Und mir ist es völlig egal, was mein Vater dazu sagt. Es wird allerhöchste Zeit, dass sich die Dinge hier ändern.« Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck von Kampfeslust, der die Tränen verdrängte. Es musste endlich Schluss sein mit all den Lügen.
»Vielen Dank! Kannst du nicht bald wiederkommen?«, fragte Anne aufrichtig, als sie sich am nächsten Morgen von Hedi verabschiedete. Lange hielten sich die alte Frau und das Mädchen im Arm. Sie hatten am vorigen Abend noch Stunden über Johann, Andreas und die Großmutter geredet. Anne hatte das Gefühl, dass sich eine schwere Last ganz langsam auflöste und fortgetragen wurde. Sie hatte das Gefühl, endlich freier atmen zu können.
»Natürlich sehen wir uns bald wieder«, versprach Hedi und dann schickte sie Anne zum Bus.
Stolz trug das Mädchen den roten Anstecker an der dünnen grauen Strickjacke über der rosa Bluse. Jeder schien darauf zu starren, aber sie streckte den Rücken noch gerader durch und reckte den Kopf weit nach oben. Sie fühlte sich unantastbar.
Zumindest bis zur Chorprobe. Keiner der Lehrer hatte auf den Button reagiert, ein paar Mitschülerinnen hatten gefragt, was der sollte und Anne hatte es ihnen freundlich erklärt. Doch dann betrat von Derking den Probenraum. Der Chor hatte sich bereits aufgestellt, Anne stand wie immer in der vordersten Reihe. Der Kini prahlte die ersten fünf Minuten wie üblich mit den letzten Erfolgen des Cäcilien-Knabenchores – nur um seine eigenen Schüler ein wenig anzustacheln, ihr Bestes zu geben, wie er versicherte. Wie üblich ließ er den Hosenträger über dem Bund seiner Hose schnalzen, dann hob er den Taktstock und alle stimmten den Kammerton an. Anne liebte Schumanns Vertonung von Goethes König von Thule, was nun folgte. Voller Hingabe sang sie die melancholischen Verse:
Es war ein König in Thule,
gar treu bis an sein Grab,
dem sterbend seine Buhle
einen goldnen Becher gab
Wie immer vergaß sie alles um sich herum, fühlte sich größer, freier, schöner gar, wenn die wunderbaren Töne ihre Kehle verließen. Doch plötzlich schlug von Derking hart mit dem Taktstock auf sein Pult. Alle verstummten. Von Derking starrte sie durchdringend an. Die Köpfe der übrigen etwa 30 Sänger drehten sich zu ihr.
»Anne«, sagte er scharf und war mit wenigen Schritten bei ihr. Hatte sie falsch gesungen? »Was hast du da?« Sein Stock schnellte vor und durchbohrte beinah ihre Strickjacke. Anne spürte, wie sie rot anlief, und legte die Hand auf ihren Button.
»Ein… äh… Familienerbstück«, stotterte sie, ohne nachzudenken.
»Ich möchte solche politischen Äußerungen nicht in meinem Unterricht sehen. Du weißt doch, dass die Weltanschauungen von Schülern nichts in der Schule verloren habe. Nimm ihn ab.«
Sie waren etwa gleich groß und ihre Blicke bohrten sich ineinander. Anne war es, als fließe aus dem Anstecker eine große Stärke direkt in sie. Der Geist ihres Onkels Andreas erfüllte sie, sein Schicksal, das Drama seines kurzen Lebens und mit kalten Lippen sagte sie: »Nein.« Von Derking riss verblüfft die Augen auf.
»Nimm ihn ab. Franz Josef Strauß war einer der größten Politiker, die dieses Land je gesehen hat, und ich dulde es nicht, dass sein Ansehen post mortem geschändet wird.«
Im Saal war es still wie nachts auf dem Friedhof. Anne hielt dem Blick des Lehrers stand. Sie wollte sich nicht mehr sagen lassen, was sie zu tun und zu lassen hatte.
»Dies ist ein historisches Stück und nimmt nicht Bezug auf aktuelle politische Debatten«, sagte sie schließlich. »Ich sehe keinen Grund, den Anstecker abzulegen.« Von Derking begann, vor ihr
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