Frostkuss
vorzuspielen. Wie Grandma Frost zu erzählen, dass in der neuen Schule alles in Ordnung war. Oder mir selbst einzureden, es sei mir egal, dass ich keine Freunde hatte. Ich tat so, als würde es mir nichts ausmachen, dass niemand mit mir redete. Als wäre ich so tough und stark und tapfer wie meine Mom, obwohl ich mich jeden Abend eigentlich nur in meinem Bett zusammenrollen wollte, um mich in den Schlaf zu weinen. Ich mochte ja die Geheimnisse anderer Leute sehen, aber ich hatte auch selbst welche – die ich verzweifelt verborgen halten wollte.
»Aber es ist real, Gwen. Alles. Egal ob du nun daran glaubst oder nicht«, fuhr Metis fort. »Die Schnitter des Chaos sind überall, auch hier in Mythos. Jeder kann ein Schnitter sein – Eltern, Lehrer, Mitschüler. Und sie werden alles tun, um zu bekommen, was sie wollen.«
»Aber was wollen sie genau?«, fragte ich. »Warum sind sie die Bösen?«
Metis seufzte. »Du hast in meinen Stunden wirklich nicht aufgepasst, oder?«
Wieder verzog ich das Gesicht.
»Die Schnitter wollen nur eines – Loki aus den Gefängnisgefilden befreien, in die die anderen Götter ihn verbannt haben. Und wir, die Schüler und Lehrer hier, die Angehörigen des Pantheons, befinden uns mit ihnen im Krieg, weil wir versuchen, genau das zu verhindern. Dafür werden all die Schüler hier ausgebildet. Um zu lernen, wie sie ihre Fähigkeiten und ihre Magie dazu einsetzen, Loki davon abzuhalten, seinem Gefängnis zu entkommen. Deswegen ist es so ein harter Schlag für uns, die Schale der Tränen zu verlieren. Sie ist ein altes Artefakt mit einer Menge Magie, einer Menge Macht, und es bringt die Schnitter Lokis Befreiung einen Schritt näher.«
Ich runzelte die Stirn. »Aber was passiert, wenn Loki freikommt? Was wäre so schlimm daran?«
»Das letzte Mal, als Loki frei war, hat er eine Armee aufgestellt. Er wollte die anderen Götter töten, die Sterblichen versklaven und allen seinen Willen aufzwingen. Hunderttausende sind gestorben, Gwen. Und Hunderttausende mehr werden sterben, wenn Loki wieder freikommt. Die Welt, wie wir sie kennen, wird vollkommen zerstört werden.«
Chaos bedeutete also Tod, Zerstörung und blablabla, genau wie ich vermutet hatte. Ein weiterer Krieg wie derjenige, der bereits gekämpft worden war. Doch diesmal lief mir ein kalter Schauder über den Rücken, als Professor Metis darüber sprach. Als wäre es tatsächlich real . Als könnte das alles tatsächlich passieren .
Wir ließen den Hauptplatz hinter uns und betraten den kleinen Weg, der zu den Wohnheimen führte. Die Schlafsäle der Schüler waren kleinere Versionen der Hauptgebäude – jede Menge grauer Stein, Massen von dichtem grünem Efeu und unzählige unheimliche Statuen überall.
Irgendwoher wusste Metis, dass ich im Styx-Wohnheim lebte, ohne dass ich es ihr gesagt hatte. Sie begleitete mich bis zur Eingangstür. Da die Ausgangssperre für die Schüler unter der Woche bei zehn Uhr lag und die Türen sich danach automatisch verschlossen, musste Metis ihre Professorenkarte durch den Scanner ziehen, um mich hineinzulassen.
Ich hätte ihr sagen können, dass sie sich die Mühe sparen konnte. Hinter dem Gebäude stand nämlich ein kräftiger Dattelpflaumenbaum, dessen Äste bis zu einem Fenster im ersten Stock reichten. Das Schloss an dem Fenster war kaputt, und welche Magie auch immer Schüler im Gebäude oder Bösewichter draußen halten sollte, sie hatte sich schon vor langer Zeit aufgelöst. Jetzt nutzten alle Mädchen das Fenster und den Baum, um nachts aus dem Haus zu schleichen und ihren Freund zu treffen. Natürlich alle außer mir. Ich hatte keinen Freund und noch weniger eine Freundin, mit der ich nach der Ausgangssperre abhängen konnte.
»Also, mach dir keine Sorgen«, sagte Metis. »Ajax und Nickamedes haben bereits begonnen, die Sicherheitsmaßnahmen an der Bibliothek und um das gesamte Schulgelände zu verstärken. Nickamedes ist in diesem Moment unterwegs, um weitere Zauber zu wirken. Die Wohnheime selbst sind alle sicher. Sie sind mit Schutzzaubern versehen, die die Sicherheit der Schüler garantieren, aber Nickamedes wird auch diese verstärken und vertiefen.«
Ihre Stimme klang so ruhig und sachlich, dass ich mich an die Lehrer an meiner alten Schule erinnert fühlte, und wie sie uns immer gesagt hatten, dass wir in aller Ruhe nach draußen gehen sollten, wenn die jährliche Feueralarmübung stattfand. Sie waren so ruhig gewesen, weil sie gewusst hatten, dass es kein echtes Feuer gab, und
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