Frostkuss
Hinweis darauf fand, was Jasmine wirklich zugestoßen war.
Aber alles war genau so, wie ich es bei meinem letzten Einbruch zurückgelassen hatte. Die Bilder von Jasmine steckten immer noch hinter dem Spiegel der Kommode. Es stand immer noch jede Menge Make-up auf der Glasplatte. Und das Bücherregal war immer noch mit Titeln gefüllt wie Häufige Walkürenkräfte , Meistere deine Magie und Die Handhabung magischer Illusionen .
Eine Minute lang starrte ich die Bücher an. Irgendwas an ihnen ließ eine halb geformte Erinnerung aufsteigen, einen vagen, halb fertigen Gedanken. Mein Blick wanderte zu dem letzten Buch. Illusionen, Illusionen … es hatte irgendwas mit Magie und Illusionen zu tun. Etwas, das ich gesehen oder gefühlt oder von jemandem gehört hatte. Aber noch während ich versuchte, den Gedanken zu fassen, fühlte ich schon, wie er mir wieder entglitt. Was auch immer es war, die Erinnerung, der Gedanke oder die Idee war noch nicht bereit, sich mir zu offenbaren. Früher oder später würde es passieren. So war es immer.
Ich wusste nicht, warum ich hergekommen war. Was ich zu finden hoffte, wenn überhaupt. Es schien einfach so … traurig. Dass jemand so schnell so mühelos vergessen werden konnte – selbst wenn Jasmine nicht gerade die netteste Person in Mythos gewesen war. Niemand wollte je vergessen werden.
Aber in diesem stillen Zimmer konnte ich keine Antworten finden, also stand ich auf und ging.
Ich wanderte zu meinem eigenen Wohnheim zurück, stieg in das Türmchen hinauf und schloss die Tür hinter mir. Auch aus meinem Wohnheim waren alle auf dem Ball, und es war genauso still wie in Walhalla. Wahrscheinlich war ich die Einzige, die noch hier war. Wieder mal allein. Natürlich.
Ich ließ mich aufs Bett fallen und starrte zur Decke. Ich konnte mich schon beschäftigen. Ich konnte den neuesten Comic lesen, duschen, ein paar schlechte Realityshows gucken, den Rest von Grandma Frosts Mandelzuckerkeksen essen.
Da war auch noch dieser Aufsatz für Metis’ Mythengeschichtskurs – der, für den man sich einen Gott oder eine Göttin aussuchen musste, um dann über ihn oder sie zu schreiben. Ich dachte darüber nach, Nike zu wählen. Die griechische Göttin des Sieges schien mitten im Kampfgetümmel zu stecken, wenn es um Loki, Schnitter und den Chaoskrieg ging.
Doch statt nach meinem Mythengeschichtsbuch zu greifen, setzte ich mich auf und starrte die geschlossene Schranktür an. Nach ein paar Sekunden mühte ich mich vom Bett hoch, ging hinüber und machte den Schrank auf. Meine übliche Sammlung von Jeans, bedruckten T-Shirts, Kapuzenpullis und Turnschuhen füllte fast den gesamten Platz, zusammen mit ein paar anderen Sachen. Mein schwerer, purpurfarbener Wintermantel. Ein paar schicke schwarze Stoffhosen. Ein paar dicke Norwegerpullis für wirklich kalte Tage. Das kratzige schwarze Kleid, das ich bei der Beerdigung meiner Mom getragen hatte.
Ich hatte damals kein schwarzes Kleid besessen, und Grandma Frost hatte mich am Tag vor der Beerdigung zum Einkaufen mitgenommen, um mir eins zu besorgen. Ich hatte das erste Kleid in meiner Größe genommen und hatte mich nicht im Mindesten darum gekümmert, wie es aussah oder wer mich darin sah. Ich hasste allein die Tatsache, dass ich es tragen musste, denn das bedeutete, dass meine Mom tot war und niemals zurückkommen würde.
Meine Finger schwebten über dem Stoff, aber ich berührte ihn nicht. Ich wollte mich weder an diesen Tag erinnern noch daran, wie schlecht ich mich in diesem Kleid gefühlt hatte. Wie verzweifelt ich darüber gewesen war, dass ich meine Mom für immer verloren hatte, nur weil sie versucht hatte, einer meiner Freundinnen zu helfen, statt bei mir zu Hause zu bleiben, wo sie hingehörte. Allein das Kleid anzusehen sorgte schon dafür, dass sich mein Magen vor Schuldgefühlen verkrampfte, als wäre ich persönlich für den Tod meiner Mom verantwortlich und nicht irgendein unbekannter, betrunkener Autofahrer …
Ich schob den Kleiderbügel zur Seite und achtete sorgfältig darauf, den schwarzen Stoff nicht zu berühren. Dann zog ich das Kleidungsstück hervor, das ganz hinten in meinem Schrank versteckt war – das Ballkleid, das meine Mom und ich an dem Wochenende vor ihrem Tod zusammen gekauft hatten.
Es hatte eine seltsame Farbe irgendwo zwischen Purpur und Grau – das Violett, von dem meine Mom immer behauptet hatte, es sei die Farbe meiner Augen. Das Kleid wirkte ein wenig, als gehörte es einer griechischen Göttin –
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