Frostkuss
Flügelärmel mit einer hoch sitzenden Taille und einem langen, wehenden Rock. Silberne Pailletten zogen sich um die Hüfte und den runden, klassischen Ausschnitt, sodass es ein wenig glitzerte.
Ich atmete tief durch, nahm das Kleid heraus und ließ die Finger über den Stoff gleiten.
Es gab keine leisen Andeutungen, kein kurzes Aufblitzen in Verbindung mit dem Kleid. Stattdessen wurde ich von einer großen Welle von Bildern überschwemmt. Mom und ich, die in einem Café in der Einkaufsstraße über den Schokoladenmilchshakes lachten, die wir uns zum Mittagessen bestellt hatten. Wir beide, wie wir auf der Suche nach dem richtigen Kleid einen Ständer nach dem anderen durchwühlten. Wir hatten nichts gefunden, aber trotzdem Spaß miteinander gehabt. Mom, die entschied, doch noch als letzte Chance zu der kleinen Boutique am anderen Ende der Stadt zu fahren, die sie kannte. Und schließlich der Ausdruck auf dem Gesicht meiner Mom, als sie dieses Kleid fand und es mir zeigte.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich, um die Bilder noch klarer zu sehen. Meine Finger streichelten den seidigen Stoff, und ich atmete ein, weil ich das Gefühl hatte, ich könnte das süße, leichte Fliederparfüm meiner Mom riechen. Ich hatte es so sehr geliebt, dass sie mir zu meinem letzten Geburtstag eine Flasche davon geschenkt hatte. Aber seit sie gestorben war, hatte ich es nicht mehr getragen. Es erinnerte mich nur daran, wie sehr ich sie vermisste.
Langsam verblassten die Gefühle und Bilder, wie sie es bei einem solchen Objekt manchmal taten. Wenn Dinge nicht benutzt oder in diesem Fall getragen wurden, sickerten die Gefühle und Schwingungen mit der Zeit aus ihnen heraus wie Wasser aus einer undichten Tasse, bis nichts mehr übrig war. Manchmal wurden alte Bilder mit neuen Gedanken oder Gefühlen verbunden, wenn man neue Erfahrungen machte oder der fragliche Gegenstand einen neuen Besitzer fand. Manchmal verblassten sie aber auch einfach und hinterließen nichts als vage Erinnerungen daran, wer und was vorher gewesen war.
Ich wollte das Kleid zurück in den Schrank hängen, aber die Bilder, die ich gerade gesehen hatte, die Gefühle, die ich durchlebt hatte, ließen es nicht zu.
Vielleicht lag es daran, wie ich mich gefühlt hatte, als ich das Kleid zum ersten Mal getragen hatte … Als könnte ich das hübscheste Mädchen auf dem Ball sein. Vielleicht lag es auch an dem Lächeln meiner Mom, als sie das Kleid gesehen hatte, als ihr aufgefallen war, wie perfekt es an mir aussehen würde. Vielleicht war es das Wissen, dass ein kleines Stück von ihr, von dem ich geglaubt hatte, ich hätte es für immer verloren, die ganze Zeit in meinem Kleiderschrank gehangen hatte.
Aber plötzlich wollte ich zu dem Ball gehen, und ich wollte dieses Kleid tragen, aus keinem anderen Grund als dem, dass es meine Mom glücklich gemacht hätte. Grandma Frost hatte recht. Es war Zeit, endlich wieder zu leben.
Morgan hatte dasselbe über Jasmine gesagt. Dass Jasmine gewollt hätte, dass alle nach ihrem Tod mit ihrem Leben weitermachten. Nur im Fall meiner Mutter wusste ich, dass es stimmte, dass es wirklich das war, was sich Grace Frost für mich, ihre Tochter, gewünscht hätte.
Ich konnte es in dem Stoff des perfekten Kleides fühlen, das sie für mich gekauft hatte.
Und dann verstand ich, dass auch ich es wollte.
Also zog ich den Kleiderbügel aus dem Kleid und legte es auf das Bett. Die Pailletten blitzten wie Augen, die mich ermunternd ansahen.
»Wird schon schiefgehen«, murmelte ich, öffnete den Kapuzenpulli und ließ ihn auf den Boden fallen.
Es war schon nach acht, als ich mich endlich fertig gemacht hatte, was bedeutete, dass der Ball schon seit einer Stunde lief. Ich hatte den Teil verpasst, bei dem die Prinzen und Prinzessinnen von jedem Jahrgang gekürt wurden. Die Abstimmung unter den Schülern hatte schon vor Wochen stattgefunden. Aber wie Morgan schon gesagt hatte, wer außer ihr und Samson sollte es schon werden, jetzt da Jasmine tot war?
Ich starrte mich im Badezimmerspiegel an. Kleid und Augen violett, lockiges braunes Haar, das locker über die Schultern fiel, Sommersprossen überall auf meinem winterbleichen Gesicht. Ich sah nicht aus wie die wunderschöne Märchenprinzessin, die Daphne gewesen war, aber zumindest wirkte ich auch nicht so nuttig wie Morgan. Ich wusste nicht, was ich war, abgesehen von einem Gypsymädchen, das Dinge sah. Aber ich war entschlossen, mich heute Abend zu amüsieren – oder es zumindest so
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