Frostnacht
Mundwinkel zu. »Mach ihn nicht wütend.«
Der Greif stand in der Mitte des Pfades und starrte mich an. Er … starrte mich einfach an, als wäre ich ein Käfer, der ihn im Moment eben interessierte. Nach einer langen Musterung sah er zu Logan. Die Kreatur studierte Logan genauso intensiv wie mich, dann glitt ihr Blick zu der Wunde des Spartaners. Wahrscheinlich konnte der Greif das Blut riechen, das zweifellos immer noch durch den Verband drang.
Ich verspannte mich, dann drehte ich meinen Körper so, dass ich zwischen dem Greif und Logan stand. Ich dachte daran, Vic aus seiner Scheide zu ziehen, doch dafür hätte ich Logan loslassen müssen. Ich wollte nicht, dass er in den Schnee fiel, wo er doch jetzt schon so schlimm verletzt war. Doch falls es sein musste, würde ich mein Schwert ziehen. Was auch immer geschah, der Greif würde Logan nicht wehtun.
Zumindest nicht, bevor er mich gefressen hatte.
Die Sekunden vergingen und zogen sich zu Minuten. Das Schweigen dauerte immer länger an, und immer noch bewegte sich der Greif nicht. Schließlich holte ich tief Luft. Ich musste immer noch an Logan denken, und mit jeder Sekunde, die verging, wurden wir beide schwächer. Die Kälte drang in unsere Muskeln.
Ich atmete noch einmal tief durch, dann machte ich einen Schritt nach rechts.
Der Greif bewegte sich nicht. Genauso gut hätte die Kreatur eine der Statuen vor der Bibliothek der Altertümer sein können. Also machte ich noch einen Schritt nach rechts. Dann noch einen und noch einen, bis ich nicht mehr direkt vor dem Greif stand.
Und dann ging ich vorwärts.
Der Weg war nicht allzu breit, und ein Flügel der Kreatur berührte meinen Skianzug, als ich an ihr vorbeischlurfte. Der Greif drehte den Kopf und beobachtete mich, aber ich ging einfach weiter. Niemals in meinem Leben hatte ich mich so sehr danach gesehnt, zu laufen, so schnell ich konnte. Doch ich unterdrückte meine Panik mit aller Kraft und setzte einfach einen Fuß vor den anderen. Langsam, vorsichtig, wachsam … und ständig in dem Bewusstsein, dass eine mythologische Kreatur in meinem Rücken stand.
»Was tust du?«, fragte Vic.
»Was ich tun muss«, antwortete ich. »Und jetzt halt den Mund. Vielleicht frisst er gerne Dinge, die unnötigen Lärm machen.«
»Unnötigen Lärm? Unnötigen Lärm? Hmph!«, schnaubte Vic.
Glücklicherweise hielt das Schwert daraufhin tatsächlich den Mund.
Ich ging mit angespannten Schultern weiter. Ständig rechnete ich damit, zu fühlen, wie sich die Klauen des Greifs in meinen Rücken bohrten oder sein Schnabel sich in meinem Hals versenkte. Doch nichts geschah. Vielleicht hatte die Kreatur das Interesse an uns verloren. Ich hoffte es zumindest. Ich war ungefähr fünfzehn Meter weit gekommen, als ich mich zum ersten Mal sicher genug fühlte, um über die Schulter zurückzusehen.
Und wieder starrte ich in die Augen des Greifs.
Die Kreatur stand ungefähr zwei Meter hinter mir und spähte mit vorgestrecktem Kopf auf mich herunter. Trotz seiner Größe hatte ich die Bewegungen des Greifs im Schnee nicht gehört. Wieder glitzerte Neugier in seinem Blick, und ich verstand, dass ich in seinen Augen kein Käfer war – sondern eine Maus.
Eine winzig kleine Maus – die jeden Moment verschlungen werden konnte.
Ich schluckte einen harten Knoten der Angst herunter, zusammen mit dem Schrei, der in meiner Kehle aufsteigen wollte. Dann sah ich wieder nach vorne und ging einfach weiter. Ungefähr alle fünfzehn Meter hielt ich an, um mich umzuschauen, doch der Greif war immer da – und folgte mir.
Ehrlich, die Kreatur trottete hinter mir über den Pfad wie Nyx, die mir über den Hof folgte. Okay, das war unheimlich. Doch da der Greif uns nicht angriff, schleppte ich mich weiter.
Logan kam immer mal wieder zu sich, während ich ihn über den Berg nach unten schleppte. Ab und zu murmelte er ein paar Worte, doch ich war so darauf konzentriert, dem Weg zu folgen, dass ich nicht darauf achtete, obwohl er ab und zu meinen Namen rief.
»Gypsymädchen …«, murmelte er. »Ich kann mich nicht wehren … kann nicht dagegen an … lauf, Gwen … lauf!«
Logan schlug schwach um sich, verloren in den Erinnerungen an unseren Kampf und den Moment, als er mich erstochen hatte. Ich war anscheinend nicht die Einzige, die unter heftigen Albträumen litt. Doch es gab nichts, was ich für den Spartaner tun konnte, also biss ich die Zähne zusammen, tat so, als könnte ich seine gequälten Schreie nicht hören, und schlurfte
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