Frostnacht
erleichterte. Ich ging davon aus, dass auch hier die Schüler ihre Autos nicht auf dem Schulgelände parken durften.
Doch es gab auch viele Unterschiede. Zum einen war ein Spaziergang auf diesen Straßen wie ein Ausflug in den Wilden Westen. Viele der altmodischen Holzhäuser sahen aus, als wären sie Cowboyfilmen entsprungen, bis hin zu den lebensgroßen Holzfiguren von Grizzlybären, die rechts und links neben Saloon-Schwingtüren Wache standen. Und dann waren da noch die Waren in den Läden – handgefertigte Cowboystiefel, mit Türkisen verzierte Western-Krawatten, diamantbesetzte, tellergroße Gürtelschnallen. Alles erinnerte an den Wilden Westen. Ich rechnete halb damit, Dornbüsche über die Straße wehen zu sehen, obwohl unter unseren Füßen der Schnee knirschte.
Endlich ließen wir die Läden hinter uns und erreichten den Rand des Akademiegeländes. Genau wie zu Hause war der gesamte Campus von einer Mauer umgeben, auch wenn das Haupttor offen stand, um die zurückkehrenden Schüler durchzulassen. Meine Freunde traten ohne einen weiteren Blick durch das Tor, aber ich hielt an und sah nach oben.
Und tatsächlich, auch hier saßen zwei Steinstatuen rechts und links auf der Mauer neben dem Tor. Doch es waren nicht die Sphinxe, die ich erwartet hatte – diese Statuen stellten Greifen dar.
Adlerköpfe, Löwenkörper, Flügel, gebogene Schnäbel, scharfe Klauen. Diese Statuen wirkten genauso wild, majestätisch und lebensecht wie die zu Hause.
Es war fast, als könnten die Statuen meine Gedanken lesen, denn während ich sie beobachtete, fingen sie an, sich zu bewegen. Ihre Flügel zuckten, ihre Federn zitterten im kalten Winterwind, ihre scharfen Klauen gruben sich ein wenig tiefer in den Stein zu ihren Füßen, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, während sie böse auf mich herunterstarrten …
»Komm schon, Gwen!«, sagte Daphne. »Hier draußen ist es eiskalt!«
Ich blinzelte, und von einem Augenblick auf den anderen bestanden die Greifen wieder aus Stein. Nun, sie mochten anders aussehen, aber es schien, als würden mich diese Statuen ebenso genau beobachten wie die zu Hause. Ich fand den Gedanken auf seltsame Weise beruhigend.
»Gwen!«, rief Daphne wieder.
Ich salutierte kurz vor den Greifen, dann zog ich die Tasche höher auf die Schulter und folgte meinen Freunden auf das Schulgelände.
Je länger ich lief, desto aufdringlicher wurde das Déjà-vu-Gefühl.
Genau wie zu Hause zogen sich aschgrau gepflasterte Wege über den ganzen Campus. Ich ging davon aus, dass alle Rasenflächen genauso glatt, grün und gepflegt gewesen wären wie in Mythos, hätten sie nicht im Moment unter einer dicken Eisschicht verborgen gelegen. Wir kamen auch an mehreren Wohnheimen vorbei, die wie exakte Kopien von denen in North Carolina wirkten. Bis jetzt bestand der einzige Unterschied, den ich zwischen den zwei Akademien erkennen konnte, in den dichten Kiefern, die überall wie Reihen von Soldaten auf dem Gelände verteilt standen. Von zu Hause war ich Ahornbäume und Eichen gewöhnt. Dazu kam nur noch die Tatsache, dass die Hügel hier um einiges steiler waren. Wir waren kaum fünf Minuten unterwegs, trotzdem spürte ich schon ein Brennen in den Beinmuskeln.
»Was ist los?«, fragte Alexei, der bemerkte, wie aufmerksam ich mich umsah.
»Ich finde es seltsam, wie sehr diese Akademie unserer Akademie ähnelt«, antwortete ich. »Gäbe es nicht all diesen Schnee, könnte ich glauben, wir wären zu Hause.«
Er zuckte mit den Achseln. »Sie sehen mehr oder weniger alle so aus. Wohnheime, gepflasterte Wege, ein Hauptplatz mit mehreren Gebäuden drum herum.«
»Wirklich? Jede einzelne Akademie?«
Alexei zuckte wieder mit den Schultern. »Zumindest alle, die ich schon besucht habe. St. Petersburg, London, New York, North Carolina und jetzt die hier. Aber es gibt immer auch gewisse Unterschiede. Du wirst schon sehen.«
Wir gingen weiter. Schließlich erreichten wir die Kuppe des Hügels, den wir erklommen hatten, und ich blinzelte überrascht.
Denn vor mir lag der obere Hof der Mythos Academy – zumindest in gewisser Weise.
Wie Alexei gesagt hatte, erinnerte das Arrangement sehr an unseren oberen Hof. Fünf Hauptgebäude als fünf Spitzen eines Sterns mit einer Reihe von Pfaden, die sich zwischen den Häusern entlangzogen. Mathematisch-naturwissenschaftliches Gebäude, das Gebäude für Englisch und Geschichte, ein Speisesaal, eine Turnhalle, eine Bibliothek. Sie standen sogar ungefähr an denselben
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