Frostnacht
»Also andere Forsetis?«
»Nein. Soweit ich weiß, ist Rory die Letzte. Ihre Eltern sind beide tot, und sie lebt bei der Schwester ihrer Mutter, also ihrer Tante«, erklärte Grandma.
»Warum hast du mir nichts von ihr erzählt?«
»Tyr … dein Vater … kam mit dem Rest seiner Familie nicht gut aus«, antwortete sie. »Lass es dir von dem Mädchen erzählen. Es ist sowieso mehr Rorys Geschichte als meine, besonders da sie jeden Tag mit den Konsequenzen leben muss.«
Ich runzelte die Stirn. »Was für Konsequenzen …?«
Links von mir raschelte etwas. Ich hatte nicht darauf geachtet, wo ich hinging, und während des Gespräches war ich tiefer zwischen die Regalreihen gewandert. Im Moment stand ich auf halber Höhe eines langen Regals, vollständig umgeben von Büchern.
Und aus dem Augenwinkel sah ich jemanden, der mich aus der nächsten Regalreihe beobachtete.
Ich konnte nicht viel über die Gestalt sagen. Die Regale waren massiv und bestanden mehr oder weniger aus Baumstämmen, aus denen Löcher als Regalbretter ausgehöhlt worden waren. Diese schweren Konstruktionen warfen tiefe Schatten. Die Gestalt schien groß zu sein, also hielt ich sie für einen Kerl. Er trug anscheinend dunkle Kleidung, zumindest war das mein Eindruck, den ich durch die Bücherreihen von seinen Jeans und dem langen Mantel erhaschen konnte. Aber er stand zu tief in den Schatten, um einen guten Blick auf sein Gesicht zu werfen.
Daran konnte ich allerdings etwas ändern. Zweifellos war er ein Spion, der hier war, um mich und meine Freunde zu bespitzeln, da es den Schnittern nicht gelungen war, uns im Zug zu töten. Wenn ich mich an ihn heranschleichen könnte, konnten wir ihn befragen und ein paar Antworten erhalten, was die Schnitter planten und warum – und wo Vivian und Agrona sich versteckten. Logan mochte nicht hier sein, aber davon würde ich mich nicht abhalten lassen, sie aufzuspüren – und Vivian und Agrona für das zahlen zu lassen, was sie ihm angetan hatten.
»Süße?«
»Ich muss jetzt weg, Grandma«, sagte ich. »Ich rufe dich später noch mal an, okay?«
»Sei nur vorsichtig. Und ich liebe dich, Süße.«
»Ich liebe dich auch.«
Ich legte auf. Doch statt das Handy wegzustecken, spielte ich weiter daran herum. Ich tigerte auf und ab, als wäre ich total abgelenkt von meinen SMS , obwohl ich gar keine bekommen hatte. Und jedes Mal sorgte ich dafür, dass ich dem Ende des Regals ein wenig näher kam – und der Kerl auf der anderen Seite tat dasselbe.
Er hielt mit mir Schritt, und dafür würde ich ihn zahlen lassen. Sobald er in Reichweite war, hatte ich vor, mir Vic zu schnappen, um das Bücherregal zu stürmen und dem Schnitter das Schwert an die Kehle zu setzen. Okay, okay, das war kein allzu großartiger Plan, aber es war besser, als irgendeinen unheimlichen Schnitterspion hinter mir herschleichen zu lassen, damit er dann Nachricht von meinem Tun an Vivian und Agrona weitertrug.
Endlich kam ich dem Regalende nahe genug, um meinen Plan umzusetzen. Ich drückte noch ein paar Tasten an meinem Handy, klickte mich durch Menüpunkt nach Menüpunkt, dann schob ich es zurück in die Hosentasche. Ich trat einen Schritt vor, als wollte ich zurück zu meinen Freunden gehen, aber in der letzten Sekunde wirbelte ich auf dem Absatz herum, zog Vic aus seiner Scheide, riss die Klinge hoch und sprang um das Bücherregal in den nächsten Gang, bereit, jeden anzugreifen, der mich beobachtete …
Leer – der Gang war absolut und total leer.
Ich sah nach rechts und links, nach vorne und hinten, aber es war einfach niemand da. Ich spähte sogar zwischen den Buchreihen hindurch in die Parallelgänge, aber die waren genauso leer wie der, in dem ich im Moment stand.
»Gwen?«, fragte Vic. Er war aufgewacht, als ich ihn so plötzlich aus seiner Scheide gerissen hatte. »Was tust du? Gibt es Schnitter zu bekämpfen?«
Ich blies den Atem aus, den ich angehalten hatte. Der Schnitter musste erkannt haben, dass ich ihn bemerkt hatte, und durch die Gänge davongeschlichen sein. Inzwischen konnte er überall sein – wenn er überhaupt da gewesen war.
Ich war überzeugt gewesen, jemanden zu sehen, der mich beobachtete. Aber jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Es war eine lange Nacht gewesen, und nach dem Schnitterangriff vom Morgen war ich immer noch nervös und schreckhaft. Vielleicht hatte mich tatsächlich jemand beobachtet – oder ich hatte mir nur etwas eingebildet, wie es so oft vorkam. Egal wie die Antwort lautete,
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