Frostnacht
meldete sich Ajax zu Wort.
»Nun«, sagte er. »Ich muss Covington bei den Vorbereitungen helfen. Ihr könnt in der Bibliothek bleiben, während wir beschäftigt sind.«
Ich nickte. Hoffentlich hatten wir einen ruhigen Tag vor uns, sodass ich mich sammeln und mich auf das vorbereiten konnte, was uns morgen wahrscheinlich erwartete – eine weitere Falle der Schnitter.
Wir kehrten in den Hauptraum der Bibliothek zurück. Covington winkte Ajax, dann verschwanden die beiden Männer in dem aus Glaswänden errichteten Bürokomplex hinter dem Ausleihtresen. Meine Freunde und ich setzten uns in die gepolsterten Sessel vor dem Kamin. Obwohl kein Feuer brannte, schienen alle vollkommen damit zufrieden, sich zurückzulehnen, die Augen zu schließen und zu dösen. Nur ich konnte nicht stillsitzen. Mir ging einfach zu viel durch den Kopf, von jeder Menge Sorgen bis zu unzähligen unbeantworteten Fragen.
Also zog ich den Mantel aus, holte Vic aus meiner Umhängetasche und legte mir den Schwertgurt um die Hüfte. Nur für den Fall, dass es heute noch zu weiteren Schnitterangriffen kam. Außerdem verbrachte ich ein paar Minuten damit, in meiner Tasche zu graben und sicherzustellen, dass Rans Netz immer noch sicher verstaut war, obwohl ich bezweifelte, dass ich es bald brauchen würde. Danach blieb mir nichts anderes übrig, als zwischen den Stühlen und Studiertischen auf und ab zu tigern.
»Entspann dich, Gwen«, sagte Oliver schließlich und öffnete ein Auge. »Versuch wenigstens, dich ein wenig zu erholen. Der Tag morgen wird auch so schon anstrengend genug.«
»Ich weiß, ich weiß«, grummelte ich. »Aber ich verabscheue die Vorstellung, den ganzen Tag hier herumsitzen zu müssen. Ich werde meine Grandma anrufen und mal hören, wie es Nickamedes geht.«
Oliver nickte und schloss erneut die Augen. Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und wanderte zu den Regalreihen. Dort stellte ich mich so auf, dass ich die anderen noch sehen konnte, dann drückte ich die Schnellwahlnummer für Grandma Frost. Sie ging schon beim zweiten Klingeln dran.
»Hallo, Süße.« Ihre warme, vertraute Stimme erklang aus dem Hörer. »Ich hatte so ein Gefühl, dass du es bist.«
»Hi, Grandma. Wie geht es dir? Und wie geht es Metis und Nickamedes?«
»Grundsätzlich gut«, antwortete sie. »Ich sitze hier auf der Krankenstation bei Nickamedes und lese ein Buch. Im Moment schläft er.«
»Und wie geht es ihm?«
»Keine Veränderung. Nicht besser, nicht schlechter.«
»Und Metis?«
»Sie schläft im Nebenzimmer. Sie verausgabt sich vollkommen, indem sie alle paar Stunden herkommt und ihn heilt. Aber bis jetzt kann sie das Gift unter Kontrolle halten.«
Ich atmete auf. Das war zumindest etwas.
»Und wie geht es dir, Süße?«, fragte Grandma Frost. »Wo bist du gerade?«
Ich berichtete ihr von allem, was seit unserem Aufbruch von der Akademie geschehen war, auch vom Schnitterangriff im Zug.
»Und da war noch was«, sagte ich, als ich fertig war. »Ich habe heute jemanden getroffen. Ein Mädchen. Ihr Name ist Rory Forseti.«
Grandma schwieg. Für einen Moment hörte ich nur das Rauschen der Verbindung.
»Grandma? Hast du mich gehört?«
Nach einem Moment seufzte sie. »Ich habe dich gehört, Süße. Ich hatte mir schon gedacht, dass du Rory dort begegnen würdest.«
Ich packte mein Handy fester. »Ihr Nachname ist Forseti – derselbe Name wie mein Dad. Bin ich – sind wir – miteinander verwandt?«
Für einen Augenblick glaubte ich, Grandma würde mir nicht antworten, doch schließlich hörte ich ein weiteres Seufzen.
»Ja«, sagte sie. »Sie ist deine Cousine. Ihr Vater und dein Vater waren Brüder.«
Mein Dad, Tyr, war gestorben, als ich zwei war. Meine Mom und Grandma hatten immer behauptet, es sei Krebs gewesen, aber seit ich von der mythologischen Welt erfahren hatte, konnte ich den Verdacht nicht mehr abschütteln, dass er ermordet worden war – wahrscheinlich von Schnittern. So wie Vivian meine Mom umgebracht hatte. Aber es war ständig so viel los gewesen, dass ich einfach nicht dazu gekommen war, Grandma nach ihm zu fragen.
Ich erinnerte mich kaum an meinen Dad, und meine Mom hatte mir nur ein paar Fotos von ihm gezeigt. Der Tyr Forseti, den ich darauf gesehen hatte, war ein großer Mann mit sandfarbenem Haar und blauen Augen gewesen, auf dessen Gesicht immer eine gewisse Traurigkeit lag, selbst wenn er gerade die Arme um meine Mom geschlungen hatte und in die Kamera lächelte.
»Gibt es noch andere?«, fragte ich.
Weitere Kostenlose Bücher