Frostnacht
Zelte ab und packten alles ein. Rachel warf sich ihren Rucksack auf den Rücken, bevor sie zum Himmel starrte. Die frühmorgendliche Sonne war bereits hinter einem schweren Vorhang dunkelgrauer Wolken verschwunden.
»Der Sturm kommt«, erklärte sie. »Wir müssen vom Berg abgestiegen sein, bevor der Schneefall richtig einsetzt.«
Wir nickten. Keiner von uns war scharf darauf, hier oben festzusitzen. Es war jetzt schon kalt und stürmisch genug. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie viel schlimmer alles durch einen halben Meter mehr Schnee werden würde. Doch trotz der Kälte zog ich meine Handschuhe nicht an. Ich wollte Vic für den Fall eines Schnitterangriffs jederzeit problemlos aus seiner Scheide ziehen können.
Während wir unsere Rucksäcke festschnallten und uns fertig zum Aufbruch machten, konnte ich das Gefühl des Unbehagens, das sich in mir ausbreitete, einfach nicht abschütteln. Es schien alles zu … einfach. Bis auf den Angriff im Zug hatten die Schnitter bis jetzt nichts gegen uns unternommen. Ich fragte mich, warum – und was sie wirklich planten.
Wir wollten gerade den Hof verlassen, als ich aus dem Augenwinkel den mysteriösen Schatten entdeckte.
In einem Moment dachte ich noch darüber nach, wie lange wir wohl brauchen würden, vom Berg abzusteigen, und wann und wo die Schnitter angreifen könnten. Im nächsten wurde mir klar, dass am Rande meines Sichtfeldes eine Gestalt stand – die mich scheinbar direkt anstarrte.
Ich riss den Kopf nach links – doch da war niemand. Ich entdeckte nur umgestürzte Mauern und herumliegende Felsbrocken, während sich in der Mitte des Hofes Blumen wie eine farbenfrohe Decke ausbreiteten.
»Was ist los, Prinzessin?«, fragte Rory, die meine suchenden Blicke bemerkt hatte.
Ich schüttelte den Kopf, weil ich keine Ahnung hatte, was ich sagen sollte. Tut mir leid, ich sehe anscheinend Dinge, die es gar nicht wirklich gibt , klang irgendwie nicht ganz richtig …
Krächz-krächz-krächz.
Ich erstarrte, während ich mir wirklich dringend wünschte, dass auch dieses Geräusch nur meiner Einbildung entsprang.
Krächz-krächz-krächz.
Doch die hohen, unheimlichen Schreie erklangen wieder, hallten von einer Seite des Hofes zur anderen. Da wusste ich, dass ich es mir nicht nur einbildete – und dass wir in ernsthaften Schwierigkeiten steckten.
Eine Sekunde später fiel ein Schatten auf mich, und ein Vogel schoss aus dem Himmel. Er war riesig, mindestens doppelt so groß wie ich. Mit glänzenden schwarzen Federn, durch die sich rote Streifen zogen; langen, gebogenen Krallen und schwarzen Augen, in denen ein heißer, schnitterroter Funke brannte.
Ein Schwarzer Rock – und er war nicht allein.
Ein Mädchen saß in einen Lederharnisch geschnallt, der auf dem breiten Rücken der Kreatur befestigt war. Eine schwarze Robe flatterte über einem schwarzen Skianzug um ihren Körper. Krauses, kastanienbraunes Haar, leuchtend goldene Augen, höhnisches Lächeln. Sie sah genauso aus wie in meinen Albträumen. Und genau wie bei dem Rock schimmerte auch in ihrem Blick ein schnitterroter Funke. Das Mädchen sah mich an und grinste.
»Hallo, Gwen«, sagte Vivian Holler. »Ich dachte mir schon, dass ich dich hier finden würde.«
Sofort warf ich meinen Rucksack auf den Boden und zog Vic aus der Scheide an meiner Hüfte. Ich wollte mich nach vorne werfen, doch Alexei hob eine Hand und hielt mich damit auf. Er schüttelte warnend den Kopf, dann zog er seine zwei Schwerter aus der Doppelscheide auf seinem Rücken und trat vor mich. Die anderen ließen ebenfalls ihre Taschen fallen und zogen ihre Waffen, bereit, gegen das Schnittermädchen zu kämpfen.
Als Vivian klar wurde, dass wir uns nicht sofort auf sie stürzen würden, schmollte sie, als wäre sie von unserer Zurückhaltung enttäuscht. Das verriet mir, dass sie sich einen Angriff gewünscht hatte. Ich fragte mich, warum, denn sie schien allein zu sein. Mein Blick huschte durch die Ruinen, doch ich entdeckte in den Trümmern keine anderen Schnitter. Aber sie waren hier irgendwo. Mussten sie einfach sein. Vivian hätte nie versucht, allein gegen uns alle zu kämpfen. So dumm war sie nicht – und auch nicht so tapfer.
Vivian starrte Alexei an, und ihr Blick verweilte auf den Schwertern in seinen Händen. »Ein Bodyguard, Gypsy? Ehrlich? Selbst ich habe keinen. Irgendwie schade, dass du so etwas brauchst, oder?« Sie schnalzte in gespieltem Mitgefühl mit der Zunge. »Na ja, allerdings kann ich auch für mich
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