Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
Vom Netzwerk:
in Kópavogur. Mehr nicht. Wann war das?«
    »Ich bin mir da nicht ganz sicher, wahrscheinlich gegen Ende der sechziger oder Anfang der siebziger Jahre. Es handelt sich um eine kleine Familie, eine Mutter und ihren Sohn. In der Zeit, als sie dort wohnte, lebte sie wahrscheinlich mit einem Mann zusammen, und den suche ich. Er war nicht der Vater des Jungen.«
    »Und warum sucht ihr nach ihm?«
    »Das geht nur die Polizei etwas an«, sagte Erlendur und lächelte. »Aber nichts Ernstes. Wir müssen uns nur einmal mit ihm unterhalten. Die Frau hieß Sigurveig und ihr Sohn Andrés.«
    Emma zögerte.
    »Ja?«
    »Ich kann mich gut an sie erinnern«, sagte sie langsam. »Ich kann mich gut an diesen Mann erinnern. Und auch an das Kind. Die Mutter trank, diese Sigurveig. Ich habe oft gesehen, wie sie spätabends nach Hause kam und immer betrunken. Ich glaube, sie hat den Jungen vernachlässigt. Der Kleine hat es nicht gut gehabt.«
    »Was kannst du mir über den Mann sagen, mit dem sie zusammenlebte?«
    »Er hieß Rögnvaldur, aber ich weiß nicht mehr, wessen Sohn er war. Wahrscheinlich habe ich es auch nie gewusst. Fuhr er nicht zur See? Er war nicht viel zu Hause. Ich glaube, er war nicht so schlimm wie sie, was das Trinken betrifft. Ich hab nie richtig begriffen, weshalb die beiden zusammen waren, sie waren so verschieden.«
    »Meinst du damit, dass sie nichts für einander übrighatten?«
    »Ich habe diese Beziehung nicht verstanden. Manchmal habe ich gehört, wie sie sich stritten, das konnte ich durch die Tür hören, wenn ich im Treppenhaus war …«
    Sie hörte mitten in ihren Ausführungen auf und schien etwas erklären zu wollen. »Ich habe nicht gelauscht«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. »Sie haben sich ziemlich laut gestritten. Die Waschküche war im Keller, und wenn man nach unten musste oder wenn ich nach Hause kam …«
    »Ich verstehe«, sagte Erlendur, der im Geiste die Frau im Treppenhaus mit den Ohren an der Tür der Nachbarin vor sich sah.
    »Er hat immer so mit ihr geredet, als bedeute sie ihm gar nichts. Hat sie immer runtergemacht, sie verhöhnt und wie Dreck behandelt. Ich mochte ihn nicht, auch wenn ich ihn kaum kannte, eigentlich fast gar nicht. Ich hörte nur, wie er war. Ein gemeiner Mensch.«
    »Und der Junge?«, fragte Erlendur.
    »Den armen Kleinen hat man kaum wahrgenommen. Er ist einem immer aus dem Weg gegangen. Ich hatte das Gefühl, dass er arm dran war. Ich weiß nicht wieso, er war irgendwie so bemitleidenswert. Ach, sind nicht viele von diesen kleinen Knirpsen mutterseelenallein …«
    »Kannst du mir diesen Rögnvaldur näher beschreiben?«, fragte Erlendur, als sie mitten im Satz verstummte.
    »Ich kann sogar noch mehr als das«, sagte Emma, »ich habe nämlich irgendwo ein Bild von ihm.«
    »Tatsächlich?«
    »Er ging gerade auf dem Bürgersteig vor dem Haus vorbei, als meine Freundin vor der Haustür ein Foto von mir machte, und hinterher stellte sich heraus, dass er ins Bild gelaufen war.«
    Sie stand auf und ging zum Wohnzimmerschrank, in dem sich einige Fotoalben befanden. Sie nahm eines heraus. Erlendur sah sich unterdessen um, die Wohnung war tadellos aufgeräumt. Er nahm daher an, dass eine Frau wie sie Fotos sofort ins Album klebte, sobald sie entwickelt worden waren. Wahrscheinlich sogar nummeriert, mit Datum und kurzem Kommentar versehen. Was konnte man in so einer Wohnung an winterlangen Abenden anderes mit sich anfangen?
    »Ihm fehlte ein Zeigefinger«, sagte Emma, als sie mit dem Album kam. »Das ist mir irgendwann aufgefallen. Er muss einen Unfall gehabt haben.«
    »Aha«, sagte Erlendur.
    »Vielleicht hat er an irgendwas herumgewerkelt. An der linken Hand, da war nur noch ein Stummel.«
    Emma setzte sich mit dem Album hin und suchte nach dem Foto. Erlendur hatte recht gehabt, die Bilder waren zeitlich der Reihe nach eingeordnet und ordentlich beschriftet. Vermutlich hatte jedes einzelne seinen festen Platz in ihren Erinnerungen.
    »Ich habe immer Spaß daran, mir Fotos anzusehen«, sagte Emma und bestätigte damit indirekt Erlendurs Überlegungen.
    »Erinnerungen können sehr wertvoll sein«, sagte er.
    »Hier ist es«, sagte sie. »Eigentlich ein ganz gutes Bild von ihm.«
    Sie reichte Erlendur das Album und deutete auf das Foto, auf dem Emma zu sehen war, dreißig Jahre jünger und in die Kamera lächelnd. Sie war genauso schlank wie jetzt, trug ein Kopftuch, eine Strickjacke, die bis zur Taille reichte, und eine enge Hose. Es war ein Schwarz-Weiß-Foto.

Weitere Kostenlose Bücher