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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Hinter ihr sah Erlendur den Mann, den sie Rögnvaldur genannt hatte. Er blickte auch in die Kamera und hatte die Hand erhoben, wie um sie vors Gesicht zu halten. Es hatte ganz den Anschein, als hätte er zu spät gemerkt, dass er auf dem Foto landen könnte. Er war hager und hatte eine hohe Stirn mit Geheimratsecken, große, vorspringende Augen und schmale Augenbrauen.
    Als Erlendur das Gesicht des Mannes betrachtete, durchfuhr ihn ein eiskalter Schauder, denn ihm war sofort klar, dass er ihm schon einmal begegnet war, und zwar erst vor kurzer Zeit. Er sah sich trotz der vielen Jahre, die dazwischenlagen, immer noch sehr ähnlich.
    »Ist was?«, fragte Emma.
    »Das ist er!«, stöhnte Erlendur.
    »Er?«, sagte Emma. »Wer?«
    »Dieser Mann! Ist das möglich? Was hast du gesagt, wie er hieß?«
    »Rögnvaldur.«
    »Nein, er heißt nicht Rögnvaldur.«
    »Na schön, dann habe ich das falsch in Erinnerung. Kennst du ihn?«
    Erlendur schaute von dem Album hoch. »Kann es wirklich sein?«, flüsterte er.
    Er sah sich wieder den Mann auf dem Foto an. Er war in seiner Wohnung gewesen und wusste, wer er war.
    »Hat er sich Rögnvaldur genannt?«
    »Ja, so hat er geheißen«, sagte Emma. »Ich bin mir da eigentlich ziemlich sicher.«
    »Ich kann es nicht glauben«, sagte Erlendur.
    »Was? Was ist denn los?«
    »Er hieß nicht Rögnvaldur, als ich ihn getroffen habe«, sagte Erlendur.
    »Kennst du diesen Mann?«
    »Ja, ich kenne ihn.«
    »Und was weiter? Wenn er nicht Rögnvaldur hieß, wie hieß er dann?«
    Erlendur antwortete nicht gleich.
    »Wie hieß er dann?«, wiederholte Emma ihre Frage.
    »Er hieß Gestur«, sagte Erlendur und starrte gedankenverloren auf das Bild, auf dem Sunees Nachbar zu sehen war, der Mann, der ihn in seine Wohnung gelassen hatte und sowohl Elías als auch Niran kannte.

Zweiundzwanzig
    Erlendur war anwesend, als sie die Tür zu Gesturs Wohnung öffneten, Elínborg ebenfalls. Der Hausdurchsuchungsbefehl war am Nachmittag vom Amtsgericht ausgestellt worden. Die Polizisten, die den Treppenaufgang bewacht hatten, seit Elías’ Leiche gefunden worden war, sagten aus, dass der Nachbar von Sunee sich nicht hatte blicken lassen. Nur Erlendur hatte ihn getroffen und mit ihm gesprochen. Seitdem keine Spur von ihm.
    Sie brauchten die Tür nicht aufzubrechen. Wie alle anderen Hausbewohner war Gestur nur Mieter, und Erlendur hatte sich einen Zweitschlüssel besorgt. Als sie die notwendigen Papiere in den Händen hatten und auf Klingeln und Klopfen niemand reagierte, steckte Erlendur den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Ihnen lag nur Andrés’ vage Aussage über einen Kinderschänder vor. Andrés war zwar ein exzellenter Lügner, Erlendur tendierte aber trotzdem dazu, ihm in diesem Fall Glauben zu schenken. Da war etwas in Andrés’ Benehmen, eine alte Angst, die ihn zu packen schien, wenn er über diesen Mann redete.
    In der Wohnung war zwar alles unverändert seit Erlendurs letztem Besuch, aber es hatte ganz den Anschein, als habe sich jemand gründlich mit Scheuerlappen und Putzmitteln zu schaffen gemacht. Der Geruch der Putzmittel lag noch in der Luft. Die Küche war blitzsauber, ebenso das Badezimmer. Der Teppich im Wohnzimmer schien erst vor Kurzem gesaugt worden zu sein, und Gesturs Schlafzimmer machte den Eindruck, als habe nie jemand darin geschlafen. Erlendur schaute sich dieses Mal genauer um und sah, wie karg die Wohnung möbliert war. Beim ersten Mal hatte er das Gefühl gehabt, sie sei größer als Sunees, obwohl sie völlig identisch geschnitten waren. Er stand mitten im Zimmer und wusste nun, woran es gelegen hatte. Gesturs Wohnung war so spartanisch eingerichtet. Es war seinerzeit dunkel gewesen, und Gestur hatte nur eine Lampe eingeschaltet, aber die Leere hatte er gespürt. An den Wänden hingen keine Bilder. Es gab nur zwei Sessel, einen Couchtisch und einen kleinen Esstisch mit drei Stühlen im Wohnzimmer und außerdem einen Bücherschrank mit ausländischen Taschenbüchern. Im Schlafzimmer befanden sich nur das Bett und ein leerer Nachttisch. In der Küche gab es drei Teller, drei Gläser und drei Bestecke, eine kleine Pfanne und zwei verschieden große Töpfe, alles stand ordentlich gespült an seinem Platz.
    Erlendur sah sich in der Wohnung um und bemerkte nichts Neues. Tische und Stühle hätten vom Gebrauchtmöbelhändler stammen können. Das Bett im Schlafzimmer hatte eine alte Federkernmatratze. Er überlegte, ob sich Gestur sofort nach ihrem Gespräch ans Werk

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