Frostnacht
sagte Erlendur, der lange nichts von seiner Tochter gehört hatte.
»Ich hab das mit dem Jungen im Fernsehen gesehen«, sagte Eva. »Ist das dein Fall?«
»Ja, es ist mein Fall und der von anderen. Von uns allen, denke ich.«
»Weißt du schon, wie es passiert ist?«
»Nein, wir wissen bisher nur sehr wenig.«
»Das ist … das ist entsetzlich.«
»Ja.«
Eva verstummte.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Erlendur nach einer Weile.
»Ich würde dich gern treffen.«
»Dann tu das. Komm einfach bei mir vorbei.«
Eva schwieg wieder eine Weile.
»Ist sie nicht immer da?«, fragte sie schließlich.
»Wer?«
»Diese Frau, mit der du zusammen bist.«
»Valgerður? Nein, nur manchmal.«
»Ich will mich nicht aufdrängen.«
»Das tust du auch nicht.«
»Seid ihr zusammen?«
»Wir sind gut befreundet.«
»Ist sie nett?«
»Valgerður ist …« Erlendur zögerte. »Was meinst du mit ›nett‹?«
»Netter als Mama?«
»Ich glaube …«
»Sie muss ja besser als Mama sein, wenn du dich mit ihr abgibst. Und bestimmt besser als ich.«
»Sie ist nicht besser als andere«, sagte Erlendur. »Ich stelle keine Vergleiche zwischen euch an. Das solltest du auch nicht tun.«
»Ist das nicht die erste Frau, mit der du zusammen bist, seitdem du uns verlassen hast? Die muss ja was zu bieten haben.«
»Du solltest sie einmal treffen.«
»Ich möchte dich treffen.«
»Dann mach das.«
»Ciao.«
Eva legte auf.
Erlendur verstaute das Handy in der Tasche.
Vor zwei Tagen hatten er und Valgerður sich getroffen. Sie war spätabends zu ihm gekommen. Er hatte ihr ein Glas Chartreuse eingeschenkt, und sie stießen darauf an, dass Valgerður sich einen Rechtsanwalt genommen und offiziell die Scheidung eingereicht hatte.
Valgerður arbeitete als medizinisch-technische Assistentin im Nationalkrankenhaus. Erlendur hatte sie bei einer Mordermittlung kennengelernt. Es stellte sich heraus, dass sie privat Probleme hatte. Sie war mit einem Arzt verheiratet, der sie mehrere Male betrogen hatte. Und sie hatte ihn schließlich verlassen. Sie und Erlendur waren übereingekommen, nichts zu überstürzen. Sie waren nicht zusammengezogen, denn Valgerður wollte nach einer langen Ehe eine Weile für sich sein, und es war Jahre her, seit Erlendur mit einer Frau zusammengelebt hatte. Es bestand auch kein Grund zur Eile. Erlendur hatte nichts dagegen, allein zu sein. Manchmal rief sie ihn an, wenn sie zu Besuch kommen wollte. Manchmal trafen sie sich in einem Restaurant. Sie hatte es einmal geschafft, ihn mit ins Theater zu schleifen, irgendwas von Ibsen. Schon eine Viertelstunde nach Beginn des Stücks konnte er sich nicht mehr wach halten und nickte ein. Sie versuchte, ihn anzustoßen, aber es nutzte nichts. Er verschlief fast das ganze Stück bis zur Pause, deswegen beschlossen sie, nach Hause zu gehen. »All diese gekünstelte Dramatik sagt mir gar nichts«, sagte er entschuldigend. »Das Theater ist auch eine Art von Realität«, widersprach sie. »Das ist aber nichts im Vergleich zu dieser hier«, sagte er und reichte ihr den zweiten Band der
Erlebnisse berittener Postboten
. Erlendur hatte ihr einige seiner Bücher ausgeliehen, die von Katastrophen in Eis und Schnee und tragischen Menschenschicksalen handelten. Zuerst war sie nicht sonderlich davon angetan gewesen, aber je mehr sie von diesen Erzählungen las, desto spannender fand sie sie, nicht zuletzt, weil sie Erlendurs brennendes Interesse an diesem Stoff spürte.
»Der Rechtsanwalt ist der Ansicht, dass jedem die Hälfte des Besitzes zusteht«, sagte sie und nippte am Likör.
»Sehr gut«, sagte Erlendur. Er wusste, dass sie in einem großen Einfamilienhaus in der Nähe der katholischen Kirche gewohnt hatten, und hatte überlegt, wer von ihnen das Haus behalten würde. Er fragte, ob es eine Rolle für sie spiele.
»Nein«, erklärte sie. »Das Haus war ihm immer sehr viel wichtiger als mir. Soweit ich weiß, hat er sich auch eine neue Frau zugelegt.«
»Tatsächlich?«
»Eine aus dem Krankenhaus, eine junge Krankenschwester.«
»Kannst du dir vorstellen, dass man eine gute, aufrichtige Beziehung aufbauen kann, wenn beide Partner vorher fremdgegangen sind?«, fragte er, denn er war in Gedanken bei einem Vermisstenfall, den er bearbeitete.
»Ich nicht«, sagte Valgerður. »Es war doch er, der mich ständig betrogen hat, und zwar mit sämtlichen Frauen, die lange genug stillgestanden haben.«
»Ich spreche nicht über dich, sondern über einen Fall, den ich gerade
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