Frostnacht
Schmerz zu lindern – als könne man noch etwas ändern.
Erlendur war dieses Gefühl seit seiner Kindheit vertraut, als er und sein jüngerer Bruder Bergur sich in einem Unwetter verirrt hatten. Eine Zeit lang bestand durchaus Hoffnung, den Bruder irgendwo im Schnee vergraben zu finden, genau wie er selbst gefunden worden war, und diese Hoffnung ließ die Leute nicht in ihren Versuchen ermüden, auch als das Schicksal des Bruders längst besiegelt gewesen war. Seine Leiche wurde nie gefunden. Als die Hoffnung mit jedem Tag geringer wurde und im Lauf der nächsten Wochen und Monate erloschen war, trat eine Art gefühlsmäßiger Taubheit an ihre Stelle. Einigen gelang es, sie von sich abzuhalten. Andere, wie Erlendur, kultivierten dieses Gefühl und machten den Schmerz zu ihrem Lebensgefährten.
Er wusste, dass es in diesem Augenblick das Wichtigste war, Niran, den älteren Bruder, zu finden. Er hoffte, dass der Junge bald nach Hause zurückkehren würde und womöglich etwas Licht in den Fall bringen könnte. Je mehr Zeit verstrich, ohne dass er sich blicken ließ, desto wahrscheinlicher wurde es nach Erlendurs Meinung, dass sein Verschwinden etwas mit dem Mord an dem kleinen Jungen zu tun hatte.
Im schlimmsten Fall konnte aber auch Niran etwas zugestoßen sein, doch diesen Gedanken mochte er nicht zu Ende denken.
»Kann ich euch mit irgendetwas behilflich sein?«, fragte Sigríður.
»Hat sich der ältere Bruder bei dir gemeldet?«, fragte Erlendur.
»Niran? Nein. Seine Mutter macht sich große Sorgen seinetwegen.«
»Wir tun, was wir können«, sagte Erlendur.
»Denkt ihr, dass ihm auch etwas passiert ist?«, fragte Sigríður entsetzt.
»Ich glaube nicht«, erklärte Erlendur.
»Er muss nach Hause kommen«, sagte Sigríður. »Sunee muss ihn hier bei sich haben.«
»Er wird schon wieder auftauchen«, entgegnete Erlendur ruhig. »Hast du eine Vorstellung, wo er wohl sein könnte? Er hätte schon längst aus der Schule zu Hause sein müssen. Seine Mutter sagt, dass er heute kein Fußballtrainung oder etwas anderes vorhatte.«
»Ich habe keine Ahnung, wo er sein könnte«, sagte Sigríður. »Zu ihm habe ich nicht so viel Verbindung.«
»Was ist mit seinen alten Freunden aus der Zeit, als sie in der Snorrabraut wohnten?«, fragte Erlendur. »Könnte er bei denen sein?«
»Darüber weiß ich nichts.«
»Verstanden sich Niran und Elías gut?«, fragte Erlendur.
»Ja, das taten sie.«
»Sie wohnen noch nicht lange hier?«
»Nein, sie sind im vergangenen Frühjahr von der Snorrabraut hierhergezogen. Die Jungen mussten im Herbst die Schule wechseln. Ich glaube, das ist sehr schwierig für sie gewesen, zuerst die Scheidung und dann auch noch in ein ganz anderes Viertel umzuziehen, in eine neue Schule zu gehen.«
»Ich muss auch mit deinem Sohn sprechen«, sagte Erlendur.
»Ich auch«, sagte Sigríður. »Er arbeitet bei einem neuen Bauunternehmen, aber an den Namen erinnere ich mich nicht.«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, war Sunee nicht die erste ausländische Frau, mit der er verheiratet war.«
»Ich verstehe den Jungen nicht«, sagte Sigríður. »Ich habe nie begriffen, was in ihm vorgeht. Du hast vollkommen recht, Sunee war seine zweite Frau aus Thailand.«
»Und zwischen den Brüdern bestand wirklich ein gutes Verhältnis?«, fragte Erlendur vorsichtig.
»Ein gutes Verhältnis? Natürlich, was denn sonst? Worauf willst du eigentlich hinaus, selbstverständlich war das Verhältnis zwischen den beiden gut.«
Sie ging einen Schritt auf Erlendur zu.
»Geht ihr etwa davon aus, dass er es getan hat?«, flüsterte sie. »Glaubst du, dass Niran so über seinen Bruder hergefallen ist? Seid ihr völlig verrückt?«
»Auf keinen Fall«, erwiderte Erlendur. »Ich …«
»Das wäre wohl eine wunderbare Lösung?«, sagte Sigríður höhnisch.
»Missversteh mich bitte nicht«, sagte Erlendur.
»Missverstehen! Ich missverstehe nichts«, zischte Sigríður mit zusammengebissenen Zähnen. »Du denkst wohl, dass es sich einfach nur um Thais handelt, die sich gegenseitig massakrieren? Wäre das nicht am allereinfachsten für dich und deinesgleichen? Das sind doch bloß Thais! Das geht uns gar nichts an. Ist es nicht das, was du sagen willst?«
Erlendur zögerte. Vielleicht war es zu früh, die nächsten Angehörigen nach dem Verhältnis zwischen den Brüdern zu befragen. Seine Fragen durften auf gar keinen Fall zu irgendwelchen Verdächtigungen führen und den Zorn und die Verzweiflung der
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