Frostnacht
Angehörigen noch vergrößern.
»Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich etwas dergleichen angedeutet haben sollte«, sagte Erlendur ruhig. »Für uns ist aber das Allerwichtigste, die Wahrheit herauszufinden, wie unangenehm sie auch immer sein mag. Für mich kommt es nicht in Betracht, dass der ältere Bruder etwas damit zu tun haben könnte, aber je früher wir ihn finden, desto besser ist es für alle Beteiligten.«
»Niran wird sicher bald nach Hause kommen«, entgegnete Sigríður.
»Könnte er bei seinem früheren Stiefvater sein?«
»Das glaube ich nicht. Sie hatten kein gutes Verhältnis zueinander. Mein Sohn …«
Sigríður hielt inne. Erlendur wartete geduldig.
»Ach, ich weiß nicht«, seufzte sie.
Sigríður erzählte ihm, dass sie bis vor Kurzem auf dem Land gewohnt habe und nur ein paarmal im Jahr nach Reykjavík gekommen sei. Sie besuchte immer die Familie ihres Sohns und übernachtete manchmal bei ihnen in der Wohnung an der Snorrabraut, obwohl sie klein war. Sie merkte es ihrem Sohn an, dass er sich nicht wohlfühlte, und obwohl Sunee sich nie beklagte, spürte sie, dass in der Ehe etwas nicht stimmte. Es war um die Zeit gewesen, als Sunee gestand, dass sie einen Sohn in Thailand hatte und ihn nach Island holen wollte.
Óðinn hatte seiner Mutter nicht erzählt, wie er Sunee kennengelernt hatte. Bevor sie ins Spiel kam, war er mit einer anderen Thailänderin verheiratet gewesen, die ihn nach drei Jahren verließ. Die hatte er aber nie persönlich kennengelernt, bevor er sie nach Island kommen ließ, sondern nur ein Bild von ihr gesehen. Sie hatte eine Aufenthaltsgenehmigung für einen Monat, und sie heirateten zwei Wochen nach ihrer Ankunft. Sie hatte alle notwendigen Papiere für eine gültige Eheschließung dabeigehabt.
»Sie ist dann später nach Dänemark gegangen«, sagte Sigríður. »Wahrscheinlich ist sie bloß hierhergekommen, um sich einen isländischen Pass zu verschaffen.«
Als Nächstes erfuhr Sigríður, dass Óðinn Sunee kennengelernt und sie geheiratet hatte. Sunee und sie verstanden sich auf Anhieb sehr gut, obwohl Sigríður nach dem, was vorausgegangen war, zunächst recht skeptisch war, als sie von der neuen Schwiegertochter hörte, und Zweifel hegte, ob diese Verbindung halten würde. Sie bemühte sich aber trotzdem, die Vorurteile beiseitezuschieben, und atmete auf, als sie Sunee die Hand schüttelte, denn sie spürte gleich, aus welchem Holz sie geschnitzt war. Es dauerte nicht lange, bis Sunee die heruntergekommene Wohnung an der Snorrabraut in ein ordentliches und schönes Zuhause mit asiatischem Flair verwandelt hatte. Sie verschönerte die Wohnung mit Sachen, die sie mitgebracht hatte oder sich schicken ließ, Buddha-Statuen, Bilder und andere schöne Gegenstände.
Obwohl Sigríður zu dieser Zeit nur sporadisch nach Reykjavík kam, versuchte sie, Sunee die Eingewöhnung in das Leben in Island zu erleichtern. Ihre Schwiegertochter verstand die Sprache nicht und tat sich sehr schwer damit, Isländisch zu lernen. Sie sprach auch nur wenig Englisch. Sigríður wusste, dass ihr Sohn menschenscheu und zurückhaltend war und nicht viele Freunde hatte, die Sunee helfen konnten, sich an die neuen Lebensumstände und eine völlig andere Gesellschaft zu gewöhnen. Nach und nach lernte Sunee zwar andere thailändische Frauen kennen, die ihr halfen, sich zurechtzufinden, aber abgesehen von der Schwiegermutter hatte sie keine isländische Freundin.
Sigríður bewunderte Sunee dafür, wie bereitwillig sie sich mit Dunkelheit und Kälte und fremder Umgebung abfand. »Man sich einfach dicker anziehen«, sagte sie nur, lächelnd und alles von der positiven Seite sehend. Der Sohn hatte einiges dagegen einzuwenden, dass seine Mutter sich ständig einmischte. Es kam zu einem Streit, als sie herausfand, dass er sich darüber ärgerte, dass Sunee Thailändisch mit dem kleinen Elías sprach, obwohl sie angefangen hatte, selber etwas Isländisch zu sprechen. »Ich weiß überhaupt nicht, was sie mit dem Jungen redet«, beklagte sich Óðinn bei seiner Mutter. »Er soll Isländisch reden, er ist ein Isländer! Das ist am besten für ihn, für seine Zukunft.«
Sigríður sagte, sie habe später herausgefunden, dass er mit seiner Ansicht nicht allein stand. Manche isländischen Ehemänner hatten ihren asiatischen Frauen sogar verboten, mit ihren Kindern in ihrer Muttersprache zu sprechen, weil sie selber die Sprache nicht verstanden. Wenn die Mutter schlecht oder gar kein Isländisch
Weitere Kostenlose Bücher