Frostnacht
ein Schlüsselbund hervor. Als er Licht in der Wohnung gemacht hatte, bemerkte Erlendur einen großen Bücherschrank, eine alte Polstergarnitur und einen verschlissenen Teppich. An zwei Wänden im Wohnzimmer klebte eine weiße Raufasertapete, die an einigen Stellen Blasen hatte und angegilbt war. Der Mann, der dem kupfernen Türschild zufolge Gestur hieß, schloss die Tür hinter ihnen und bot Erlendur einen Platz auf dem Sofa an. Nachdem er sich den Winteranorak ausgezogen, die Plastiktüte in der Küche abgestellt und Kaffee aufgesetzt hatte, nahm er Erlendur gegenüber in einen Sessel Platz.
»Was kannst du über Sunee und ihre beiden Jungen sagen?«, fragte Erlendur.
»Nur Gutes. Die Mutter ist ausgesprochen tüchtig, das muss sie ja auch sein, alleinstehend, wie sie ist. Die Jungen sind immer ausnehmend höflich zu mir gewesen. Elías hat kleine Botengänge für mich gemacht, und Niran … Wo ist Niran? Wie hat er darauf reagiert?«, fragte Gestur, der in Sorge zu sein schien.
Erlendur zögerte.
»Er ist doch hoffentlich nicht auch angegriffen worden?«, stöhnte Gestur.
»Nein«, entgegnete Erlendur, »aber wir wissen nicht, wo er ist. Hast du eine Ahnung …«
»Wo er sein könnte? Nein, ich habe keine Ahnung.«
Erlendur war ernsthaft besorgt wegen des älteren Bruders, aber tun konnte man wenig, außer hoffen, dass er bald nach Hause kommen oder gefunden werden würde. Es schien ihm noch zu früh, Nirans Foto an die Medien weiterzugeben.
»Hoffentlich trödelt er nur irgendwo herum«, sagte er. »Wie standen die beiden Brüder zueinander?«
»Er hat sehr zu Niran aufgeschaut, Elías, meine ich. Ich glaube, er hat seinen Bruder vergöttert. Er hat sehr viel über ihn gesprochen. Wie Niran alle Computerspiele beherrscht und wie gut er Fußball spielen kann, und wie er ihn mitnahm, wenn er mit seinen Freunden ins Kino gegangen ist, obwohl alle viel älter waren. In Elías’ Augen wusste Niran alles und konnte alles. Sie waren so verschieden, wie Brüder nur sein können. Elías freundet sich schnell mit anderen an, aber Niran ist sehr viel zurückhaltender und misstrauischer. Aber hochintelligent. Er beobachtet alles sehr genau und reagiert blitzschnell. Er verlässt sich nicht auf den ersten Eindruck, er ist sehr argwöhnisch.«
»Du scheinst die beiden ganz gut zu kennen.«
»Elías ist ein bisschen einsam, der arme Junge. Er fühlte sich dort, wo sie früher gewohnt haben, wohler. Die Mutter kommt oft spät von der Arbeit nach Hause, und dann hat sich Elías oft ganz allein hier im Treppenhaus herumgetrieben oder unten im Keller in den Abstellräumen und den winkligen Gängen.«
»Und Sunee?«
»Wir könnten mehr von solchen tüchtigen Frauen gebrauchen. Sunee sorgt vorbildlich für sich und ihre Jungen. Ich bewundere sie.«
»Ist sie ganz auf sich selbst angewiesen?«
»Soweit ich weiß, ja. Ihr früherer Ehemann kümmert sich meines Wissens kaum um sie.«
»Hatte Elías Verbindung zu anderen hier im Haus?«
»Ich glaube nicht. Die Leute hier haben kaum Kontakt zueinander, es sind alles Mietwohnungen, und du weißt, was es für Typen gibt, die auf den Mietmarkt angewiesen sind. Dauernd wechseln die Mieter, Singles und Paare und alleinstehende Mütter wie Sunee, aber auch alleinerziehende Väter, Studenten. Einige werden rausgeworfen, andere wiederum bezahlen immer pünktlich die Miete.«
»Jemand besitzt also diesen ganzen Block?«
»Zumindest diesen Treppenaufgang, wahrscheinlich irgend so ein Spekulant, könnte ich mir vorstellen. Als ich die Wohnung gemietet habe, hat eine Frau von einem Maklerbüro sich darum gekümmert und mir eine Kontonummer gegeben. Falls irgendetwas ist, setze ich mich mit dem Maklerbüro in Verbindung.«
»Ist die Miete hoch?«
»Für Sunee ja, könnte ich mir vorstellen, es sei denn, sie hat einen anderen Mietvertrag als ich.«
Erlendur stand auf. Der Kaffee in der Kaffeemaschine stand unangerührt in der Küche, und der Duft durchzog die ganze Wohnung. Gestur stand ebenfalls auf, ohne ihm Kaffee anzubieten. Erlendur spähte in den dunklen Flur. In der Tür befand sich knapp oberhalb des Namensschilds ein Spion. Wenn man durch ihn hindurchblickte, sah man die Eingangstür zu Sunees Wohnung. Erlendur blickte Gestur in die Augen und bedankte sich.
Fünf
Wieder klingelte Erlendurs Handy. Die Nummer, die auf dem Display erschien, kannte er nicht, aber er wusste gleich, wer es war, als er die Stimme hörte.
»Stör ich dich?«, fragte Eva Lind.
»Nein«,
Weitere Kostenlose Bücher