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Frostnacht

Frostnacht

Titel: Frostnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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bearbeite.«
    »Die vermisste Frau?«
    »Ja.«
    »Sind sie beide fremdgegangen?«
    Erlendur nickte. Er besprach nur ganz selten mit Außenstehenden die Fälle, die er gerade bearbeitete. Bei Valgerður machte eine Ausnahme, bei Eva Lind ebenfalls.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Valgerður. »Es ist bestimmt schwierig, wenn beide sich unter solchen Umständen von ihren Partnern getrennt haben. Irgendwie muss das doch Auswirkungen haben.«
    »Und warum sollte das gleiche Problem nicht wieder auftreten?«, fragte Erlendur.
    »Du darfst aber die Liebe nicht ganz außer Acht lassen.«
    »Die Liebe?«
    »Du darfst die Liebe nicht unterschätzen. Manchmal sind beide Partner bereit, alles für eine neue Beziehung zu opfern. Vielleicht ist das die wahre Liebe.«
    »Ja, aber was ist, wenn der eine Partner diese wahre Liebe in regelmäßigen Abständen neu findet?«, fragte Erlendur.
    »Ist sie gegangen, weil er sie betrogen hat? Hat er wieder damit angefangen?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur.
    »Hat sich deine Frau scheiden lassen, weil du fremdgegangen bist?«
    Die Frage überraschte ihn, und er musste unwillkürlich lächeln. »Nein«, sagte er. »Ich habe keine Ahnung, wie man so etwas betreibt. Fremdgehen ist, wenn man sich den Ausdruck anschaut, anscheinend etwas, was man betreibt. So ähnlich wie Hobbys oder Sport.«
    »Du ziehst also in Erwägung, dass der Mann das Vertrauen dieser Frau missbraucht hat?«
    Erlendur zuckte mit den Achseln.
    »Weswegen ist sie auf einmal spurlos verschwunden?«
    »Das ist genau die Frage.«
    »Ihr habt sonst nichts herausgefunden?«
    »Im Grunde genommen nicht.«
    Valgerður schwieg eine Weile.
    »Wie kannst du nur diesen Chartreuse trinken?«, hatte sie anschließend gefragt und eine Grimasse gezogen.
    »Eine Marotte von mir«, antwortete er lächelnd.
    Als Erlendur in Sunees Wohnung zurückkehrte, war ihre ehemalige Schwiegermutter eingetroffen, eine schlanke und agile Frau um die sechzig. Sie war die Treppe hinaufgeeilt und hatte Sunee, die sie auf dem Treppenabsatz erwartete, in die Arme genommen. Sunee schien froh zu sein, Elías’ Großmutter bei sich zu haben. Erlendur hatte den Eindruck, als hätten sie ein gutes Verhältnis zueinander. Elías’ Vater hatte man immer noch nicht erreicht. Er war weder zu Hause noch auf seinem Handy zu erreichen. Sunee glaubte, dass er vor Kurzem den Arbeitsplatz gewechselt hatte, wusste aber nicht, wie die Firma hieß, bei der er jetzt beschäftigt war.
    Während die Frau halblaut mit Sunee spach, standen der Bruder und die Dolmetscherin abseits. Erlendur betrachtete den roten Lampenschirm mit dem gelben Drachen. Er schien sich um einen kleinen Hund zu winden, aber Erlendur konnte nicht erkennen, ob der Hund dadurch beschützt oder bedroht wurde.
    »Was für ein Schicksalsschlag«, stöhnte die Frau und sah zur Dolmetscherin hin, die sie zu kennen schien. »Wer kann denn so etwas getan haben?«
    Sunee sagte etwas zu ihrem Bruder, und sie gingen gemeinsam mit Guðný in die Küche.
    Die Frau warf Erlendur einen Blick zu.
    »Und wer bist du?«, fragte sie.
    Erlendur sagte, wer er war. Die Frau stellte sich als Sigríður vor. Sie wollte von Erlendur bis ins kleinste Detail wissen, was vorgefallen war, was die Polizei unternehme, ob es schon Mutmaßungen gebe und ob man schon irgendwelche Anhaltspunkte habe. Erlendur gab ihr, so gut er konnte, Auskunft, hatte aber nur sehr wenig zu berichten. Das schien sie zu irritieren, weil sie den Verdacht hegte, Erlendur wolle ihr Informationen vorenthalten. Als sie das andeutete, versicherte er ihr, dass das keineswegs der Fall war, die Ermittlung habe gerade erst begonnen, und sie hätten noch nicht viel in der Hand.
    »Nicht viel in der Hand! Ein zehnjäriger Junge wird erstochen, und du sagst, ihr habt nichts in der Hand?«
    »Mein aufrichtiges Beileid wegen des Jungen«, sagte Erlendur. »Wir tun selbstverständlich alles in unserer Macht Stehende, um herauszufinden, was passiert ist, und um den Schuldigen zu finden.«
    Es war nicht das erste Mal, dass er sich in einer derartigen Situation befand und sich als Eindringling in die Privatsphäre von Menschen fühlte, die von tiefer Trauer wie gelähmt waren, weil etwas passiert war, das für sie vollkommen unverständlich und unerträglich war. Er kannte die Verweigerung und den Zorn. Das Geschehene war so überwältigend, dass es ihnen unmöglich war, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Der Verstand suchte nach irgendwelchen Auswegen, um den

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