Frostnacht
die Hand nach dem Schalter aus und knipste es wieder aus. Sein Bruder war schon in der Küche. Sunee war bereits zu spät dran und fand ihr Portemonnaie nicht. Sie rief ihm zu, er müsse jetzt aufstehen. Sie wusste, wie gern er noch ein wenig länger unter dem warmen Oberbett liegen blieb, besonders wenn der Morgen kalt und dunkel war und ihn ein langer Schultag erwartete.
»Es ist wichtig, dass wir mit seinen Freunden sprechen«, sagte Erlendur, als Guðný Sunees Worte übersetzt hatte. Sunee sah wieder in das Zimmer der Jungen.
»Hatte er viele Freunde?«, fragte Erlendur, und die Dolmetscherin wiederholte seine Frage auf Thailändisch.
»Ich glaube nicht, dass er hier in dem neuen Viertel viele Freunde hatte«, antwortete Sunee.
»Er hat davon geträumt«, sagte Erlendur.
»Er hat geträumt, einen guten Freund gefunden zu haben«, dolmetschte Guðný weiter. »Ich habe ihn geweckt, und er lag noch eine ganze Weile im Bett, bevor er endlich in die Küche kam. Ich war schon auf dem Weg nach draußen, als er endlich erschien, und ich hatte ihm mehrmals zugerufen, er müsse sich beeilen. Niran hatte bereits gefrühstückt und wartete auf ihn. Sie sind meist zusammen zur Schule gegangen. Irgendwann hatte Niran keine Lust mehr zu warten, und ich musste los.«
Sunee holte tief Luft.
»Ich konnte mich nicht einmal richtig von ihm verabschieden. Es war das Letzte, was ich ihn sagen hörte.«
»Was?«, fragte Erlendur und blickte unverwandt auf die Dolmetscherin.
Sunee sagte etwas. Sie sprach so leise, dass Guðný sich zu ihr herunterbeugen musste. Als sie sich wieder aufrichtete, übersetzte sie das Letzte, was Elías zu seiner Mutter gesagt hatte, bevor sie sich eilig auf den Weg zur Arbeit machte.
»Ich wollte, ich wäre nicht aufgewacht.«
Sechs
Erlendur erhielt die Mitteilung, dass man endlich Elías’ Vater erreicht habe. Er hatte darum gebeten, seinen Sohn im Leichenschauhaus am Barónsstígur sehen zu können. Jetzt saß er in Erlendurs Büro im Hauptdezernat an der Hverfisgata und wartete auf ihn. Erlendur hatte sich von Sunee, ihrem Bruder und der Dolmetscherin vor dem Haus verabschiedet. Zwei Polizisten begleiteten sie auf der Suche nach Niran. Sigríður war in der Wohnung geblieben. Erlendur glaubte, dass er im Augenblick keine weiteren Informationen von Elías’ Mutter bekommen konnte. Offensichtlich hatte sie nicht die geringste Ahnung, warum ihr Sohn überfallen worden war und weshalb Niran nicht nach Hause kam. Genauso wenig wusste sie, wo er sich im Augenblick aufhielt. Da sie noch nicht lange in diesem Viertel wohnten, kannte sie seine Freunde nur flüchtig, und die neue Wohngegend war ihr noch nicht vertraut. Erlendur verstand gut, weshalb sie nicht zu Hause bleiben und die weitere Entwicklung abwarten wollte. Die gesamte Polizei in Reykjavík fahndete nach Niran. Die Fotos von ihm waren an alle Reviere weitergeleitet worden. Er konnte in Gefahr sein. Er konnte aber auch auf der Flucht sein. Das Wichtigste war, ihn so schnell wie möglich zu finden.
Elínborg setzte sich mit Erlendur in Verbindung und berichtete ihm, dass sie mit den Angestellten in der Apotheke gesprochen habe, in deren Nähe Niran und seine Freunde manchmal herumlungerten, aber dort wusste man nichts von irgendwelchen Jungen. Ihnen war nicht aufgefallen, dass sich eine Gruppe Jugendlicher regelmäßig hinter dem Haus traf, und die Angestellten fielen aus allen Wolken, als Elínborg genauer nachhakte und sagte, dort würden sich dauernd alle möglichen Kinder aus der Schule herumtreiben. Die Wände seien beschmiert, und in dem kleinen Hinterhof wimmele es von Kippen. Elínborg sagte Erlendur, sie würde sich als Nächstes die Klassenkameraden von Elías vornehmen.
»Übrigens hat eine Mitbewohnerin im Haus, Fanney heißt sie, erwähnt, dass Sunee Besuch bekommen hat.«
»Was für Besuch?«
»Das war ziemlich unklar. Sie glaubt, dass Sunee vielleicht Männerbesuch bekam.«
»Ein Liebhaber?«
»Möglich, aber sie weiß es nicht genau und hat niemanden gesehen. Sie hat bloß das Gefühl. Seit dem letzten Sommer.«
»Wir müssen Sunee danach fragen«, sagte Erlendur. »Lass ihr Telefon überprüfen, wer bei ihr angerufen hat und wen sie angerufen hat.«
»In Ordnung.«
Das Handy klingelte wieder, als Erlendur auf den Parkplatz beim Dezernat einbog. Es war Valgerður, die die Nachricht von dem Mord gehört hatte und schockiert war. Eigentlich waren sie für diesen Abend verabredet gewesen, aber Erlendur sagte, dass
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