Frostnacht
Ordnung mit ihm sei, woraufhin er genickt hat. Aber er war irgendwie so abwesend. Er saß am Pult und hatte den Schulranzen vor sich auf dem Tisch, schaute aus dem Fenster auf den Spielplatz und schien sich ganz und gar in seiner eigenen Welt zu befinden. Er hörte mich gar nicht, als der Unterricht begann, sondern saß nur da und starrte zum Fenster hinaus. Ich bin zu ihm hingegangen und habe ihn gefragt, woran er dachte.
›An den Vogel‹, sagte er.
›Was für einen Vogel?‹, fragte ich.
›Von dem ich geträumt habe. Der Vogel, der gestorben ist.‹«
Agnes steckte den Zigarettenstummel in die Tasche und schloss das Fenster. Es war kalt im Zimmer geworden, und sie schauderte leicht, als sie aufstand. Laut der Vorhersage sollte sich das Wetter im Lauf des Abends und der Nacht noch verschlimmern.
»Ich bin nicht darauf eingegangen«, sagte sie. »Kinder erzählen oft solche Sachen. Danach habe ich ihn dann erst gegen Mittag wieder gesehen, in der Freistunde und beim Mittagessen, habe ihm aber keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Sie hatten den Rest des Morgens Kunstunterricht bei Brynhildur, du solltest dich auch mit ihr unterhalten. Nachmittags hatten sie dann zwei Stunden bei mir, und die letzte Stunde war Sport bei Vilhjálmur. Er hat Elías heute als Letzter unterrichtet.«
»Er steht als Nächster auf meiner Liste«, sagte Sigurður Óli. »Kannst du mir etwas über …« – er blätterte in seinem Notizbuch, um den Namen zu finden, den der Rektor ihm genannt hatte – »… diesen Kjartan sagen, der Isländisch unterrichtet?«
»Kjartan ist alles andere als eine Frohnatur«, antwortete sie. »Das wirst du schnell feststellen können. Er hält mit seinen Ansichten nicht hinterm Berg. Kein besonders angenehmer Zeitgenosse. Er war früher ein Ass im Handball, glaube ich, aber dann ist irgendetwas vorgefallen. Ich kenne die Geschichte nicht gut genug. Unintelligent ist er nicht. Er unterrichtet meist in den älteren Jahrgangsstufen.«
Sigurður Óli nickte, steckte sein Notizbuch wieder ein und verabschiedete sich von Agnes. Auf dem Weg zum Auto meldete sich sein Handy, es war seine Frau Bergþóra. Sie hatte die Fernsehnachrichten gesehen und wusste, dass er spät nach Hause kommen würde.
»Das ist ja grauenvoll«, sagte sie. »Ist er wirklich erstochen worden?«
»Ja«, sagte Sigurður Óli. »Ich habe jede Menge zu tun, wir wissen gar nicht, wo wir anfangen sollen. Geh einfach ins Bett und warte nicht auf mich.«
»Habt ihr schon irgendwelche Anhaltspunkte, wer das getan hat?«
»Nein. Und sein älterer Bruder ist nicht aufzufinden. Es könnte sein, dass er etwas weiß. Das glaubt Erlendur zumindest.«
»Dass er es getan hat?«
»Nein, aber …«
»Ist es nicht wahrscheinlicher, dass er auch überfallen worden ist? Wie sieht Erlendur das?«
»Ich werd ihn fragen«, sagte Sigurður Óli kurz angebunden. Bergþóra gab manchmal unabsichtlich zu verstehen, dass sie in Sachen Ermittlungsarbeit mehr von Erlendur hielt als von ihrem Ehemann. Sigurður Óli wusste, dass es nicht böse gemeint war, aber trotzdem ging es ihm auf die Nerven.
Er zog eine Grimasse. Mit falschen Reaktionen konnte er Bergþóra in Rage bringen. Er war müde und schlecht aufgelegt, und außerdem wusste er, weshalb sie ihn möglichst bald zu Hause haben wollte. Ein Einfall von Bergþóra – vor einigen Tagen hatte sie ihm den Vorschlag unterbreitet, ein Kind aus dem Ausland zu adoptieren, weil sie zusammen keine Kinder bekommen konnten. Sigurður Óli war nicht sehr angetan von dieser Idee und hatte zögernd vorgeschlagen, die Sache eine Weile auf sich beruhen zu lassen. Die Versuche, ein Kind zu zeugen, hatten ihre Ehe stark belastet. Er war der Meinung, dass sie jetzt erst einmal ein Jahr verstreichen lassen sollten, und zwar ohne sich über das Kinderkriegen oder eine Adoption Gedanken zu machen. Bergþóra war ungeduldiger, sie sehnte sich nach einem Kind.
»Okay, vielleicht sollte man sich da nicht einmischen«, erklärte Bergþóra am Telefon.
»Es ist durchaus denkbar, dass sein Bruder ebenfalls überfallen worden ist«, sagte Sigurður Óli. »Wir untersuchen alle Möglichkeiten.«
Nach längerem Schweigen fragte Bergþóra: »Hat Erlendur diese Frau schon gefunden?«
»Nein, man hat sie noch nicht gefunden.«
»Heißt das, dass ihr in dieser Sache noch keinen Schritt weitergekommen seid?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Wenn ich schon eingeschlafen bin, weckst du mich dann?«
»Mach ich«, sagte
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