Frostnacht
wusste nicht genau, ob er das sagen durfte, was er sagen wollte.
»Würdest du uns jetzt bitte in Ruhe lassen«, sagte der Mann und stand auf. »Wir möchten essen.«
»Hast du Elías gesehen, als er zur Geburtstagsfeier kam?«
»Ich arbeite achtzehn Stunden am Tag«, erklärte der Mann. »Er ist nie zu Hause«, warf die Frau ein. »Es besteht kein Grund, so abweisend zu ihr zu sein«, wies sie ihren Mann zurecht und warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu.
»Hast du etwas gegen Ausländer?«
»Ich habe nichts gegen diese Leute«, sagte der Mann. »Unser Birgir kannte diesen Jungen gar nicht, und sie waren nicht befreundet. Wir können dir nicht weiterhelfen. Würdest du uns jetzt bitte in Ruhe lassen!«
»Selbstverständlich«, sagte Elínborg, während sie auf den Spaghettiteller blickte. Sie zögerte noch einen Augenblick, gab dann aber auf und verließ das Haus.
»Es war ein ganz normaler Tag in der Schule«, sagte Elías’ Klassenlehrerin Agnes zu Sigurður Óli. »Das kann ich, glaube ich, sagen. Außer, dass ich ihm einen anderen Platz zugewiesen habe. Das habe ich schon eine ganze Zeit vorgehabt, aber erst heute Morgen gemacht.«
Sie saßen immer noch im Arbeitszimmer in Agnes’ Wohnung. Sie hatte eine Zigarette aus einer Schublade gefischt. Sigurður Óli beobachtete, wie sie verstohlen zur Tür blickte, sich direkt ans Fenster setzte und den Rauch hinausblies. Es war ihm unverständlich, weshalb sich Menschen unbedingt mit Rauchen umbringen wollten, denn er war überzeugt, dass Rauchen schädlicher war als irgendetwas anderes auf der Welt. Darüber hielt er manchmal Vorträge im Dezernat, von denen Erlendur als Raucher keinerlei Notiz nahm. Nur einmal hatte er ihm entgegnet, dass nichts auf der Welt schädlicher sei als starrköpfige Asketen wie Sigurður Óli.
»Elías kam etwas zu spät«, sagte Agnes. »Das kam nicht häufig vor bei ihm, obwohl er manchmal etwas herumgetrödelt hat. Er verließ das Klassenzimmer oft als Letzter und holte als Letzter die Bücher aus dem Schulranzen und so. Er war mit seinen Gedanken immer ganz woanders. Er war so eine Art ›Stewardess‹.« Agnes deutete mit den Fingern Anführungszeichen an.
»Stewardess?«
»So nennt Vilhjálmur, unser Sportlehrer, sie. Er stammt von den Westmännerinseln.«
Sigurður Óli sah sie verständnislos an.
»Damit meint er die Kinder, die nach dem Sport als Letzte den Umkleideraum verlassen.«
»Du hast ihn umgesetzt?«, fragte Sigurður Óli, der keine Ahnung hatte, was das mit den Stewardessen und den Westmännerinseln sollte.
»Das ist durchaus üblich«, antwortete Agnes. »Und es geschieht aus den unterschiedlichsten Gründen. Ich habe es nur indirekt seinetwegen getan. Elías war in Mathematik besonders gut, er war nicht nur allen anderen in der Klasse weit voraus, sondern auch in dem gesamten Jahrgang der Beste. Der Junge, der neben ihm saß, der arme Birgir oder Biggi, wie er genannt wird, tut sich hingegen schwer damit zu kapieren, wieso zwei plus zwei vier ist.«
Agnes blickte Sigurður Óli an. »So sollte man eigentlich nicht reden«, erklärte sie verlegen. »Aber wie dem auch sei: Biggis Mutter kam zu mir und hat mir gesagt, dass der Junge oft darüber klagt, dass er ein Versager ist und dass er nichts kapiert. Als sie versuchte, aus ihm herauszulocken, was los sei, sagte er, dass Elías in allem viel besser sei als er. Der Mutter war das im Grunde genommen regelrecht peinlich, aber so etwas kommt gar nicht so selten vor, und das Problem ist einfach zu lösen. Ich habe Elías einen anderen Platz zugewiesen und ihn neben ein ganz liebes Mädchen gesetzt, das auch eine gute Schülerin ist.«
Agnes inhalierte den Rauch tief und blies ihn aus dem Fenster.
»Aber was war mit Elías? Hatte er denn keine Schwierigkeiten?«
»Doch«, sagte Agnes, »er tat sich schwer im Isländischen. Die Brüder unterhielten sich in ihrer Muttersprache miteinander. Zu Hause bei ihnen wurde auch Thailändisch gesprochen. So was kann Kinder überfordern und dadurch verwirren.«
Sie drückte die Zigarette aus.
»Heute Morgen kam Elías also etwas zu spät?«, fragte Sigurður Óli.
Agnes, die den Stummel immer noch zwischen den Fingern hielt, nickte.
»Ich hatte bereits angefangen, die Namen der Kinder vorzulesen, als er endlich erschien. Die ganze Klasse sah zu, wie er zu seinem Platz ging und sich setzte. Seine Haare waren verwuschelt und er sah so aus, als sei er noch nicht richtig wach. Ich habe gefragt, ob alles in
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