Frostnacht
ist im Unwetter oben in den Bergen erfroren. Ein mörderischer Schneesturm brach über uns herein, und wir versanken im Schnee.«
»Und warum wurde er nie gefunden?«
»Worauf willst du hinaus, Eva?«
»Du hast mir nicht alles gesagt, oder?«
»Alles, was?«
»Sindri hat mir gesagt, wie es hätte passiert sein können.«
»Wieso reden die Leute in den Ostfjorden immer noch darüber?«, sagte Erlendur. »Was glauben die zu wissen?«
»In meinem Traum ist er nämlich nicht erfroren, und das passt ganz genau zu dem, was Sindri gesagt hat.«
»Würdest du bitte aufhören, darüber zu reden«, sagte Erlendur. »Schluss damit. Ich will nicht darüber reden, nicht jetzt. Später, Eva, das verspreche ich dir.«
»Aber …«
»Du musst doch spüren, dass ich es nicht möchte«, sagte er. »Vielleicht ist es am besten, wenn du jetzt gehst. Ich … ich habe derzeit viel um die Ohren, und es war ein anstrengender Tag. Wir sprechen später darüber.«
Er stand auf. Eva starrte ihn schweigend an, sie begriff seine Reaktion nicht. Es hatte ganz den Anschein, als würde das Unglück ihren Vater immer noch genauso sehr erschüttern wie damals, als sei es ihm in all diesen Jahren nicht gelungen, damit fertig zu werden.
»Willst du den Traum nicht hören?«
»Nicht jetzt.«
»In Ordnung«, sagte sie und stand auf.
»Grüß Sindri von mir, wenn du ihn siehst«, sagte Erlendur und strich sich über die Haare.
»Mach ich«, antwortete Eva Lind.
»Nett, dich gesehen zu haben«, sagte er verlegen.
»Gleichfalls.«
Als sie fort war, stand er lange wie in eine andere Welt entrückt vor den Bücherregalen. Eva hatte ein besonderes Händchen dafür, seine wunden Stellen zu berühren, das schaffte niemand anderes. Er war noch nicht bereit, sich mit Spekulationen über den Verbleib seines Bruders zu befassen. Irgendwann hatte er Eva versprochen, ihr die ganze Geschichte zu erzählen, aber dazu war es noch nicht gekommen. Sie konnte nicht einfach in sein Leben hineinplatzen und Antworten verlangen, wenn es ihr in den Kram passte.
Das Buch, aus dem er Marian Briem vorgelesen hatte, lag auf dem Wohnzimmertisch, und er nahm es zur Hand. Wie in so vielen der Bücher, die er besaß, ging es darin um Katastrophen und verhängnisvolle Schicksale in Islands Einöden. Dieses hier war insofern etwas Besonderes, als es einen kurzen Abschnitt über etwas enthielt, das sich vor vielen Jahren ereignet hatte, als ein Vater und seine beiden Söhne in einem furchtbaren Schneesturm gelandet waren.
Erlendur schlug wie so oft zuvor diesen Abschnitt auf. Die einzelnen Zeitzeugenberichte in diesem Buch waren zwar unterschiedlich lang, aber ähnlich strukturiert. Erst kam der Titel, dann der Untertitel oder die Nennung des Gewährsmanns. Der Bericht selbst begann gewöhnlich mit der Beschreibung der lokalen Verhältnisse, dann wurde das Ereignis nacherzählt, und zum Schluss kam eine resümierende Schlussbemerkung. Diesen Bericht hatte er öfter als alles andere in seinem Leben gelesen, und er kannte ihn Wort für Wort auswendig. Der Stil war sachlich und unpersönlich, auch wenn es um den einsamen Tod eines achtjährigen Jungen ging. Von der Zerrüttung, die dieses Ereignis bei den Überlebenden hinterließ, war keine Rede. Diese Geschichte würde nie zu Papier gebracht werden.
Er schaute von dem Buch hoch und dachte an das, was er Marian Briem hatte sagen wollen, aber nicht über die Lippen gebracht hatte. Er wusste, dass es keine Rolle mehr spielte. Es war nicht seine Art, etwas zu sagen, was nicht zu ihm passte, das hatte ihm schon immer widerstrebt. Er hätte nur gern die Worte gesagt, die ihm in der Todesstunde in den Sinn gekommen waren, als er Zeuge wurde, wie dieser einsame Mensch die letzte Reise antrat.
Danke für dein Geleit.
Sechzehn
Die Polizei konzentrierte sich auf die Suche nach Niran, der immer noch spurlos verschwunden war. Mithilfe des Schulpersonals hatte man Informationen über seine Freunde gesammelt, Jungen, die er kannte und mit denen er oft zusammen war. Parallel dazu lief die Fahndung nach einer anderen Person, von der nur Erlendur wusste. Sie fußte auf Marian Briems Erinnerung an Andrés’ Stiefvater. Erlendur wollte nicht, dass die Fahndung an die große Glocke gehängt wurde, denn es konnte genauso gut sein, dass Andrés ihnen etwas vorlog; es wäre nicht das erste Mal gewesen.
Die Nachricht, dass Sunee, die Mutter des Mordopfers, ihren älteren Sohn in Sicherheit gebracht hatte, erregte einige Aufmerksamkeit in
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