Frostnacht
anderes kommt ja wohl kaum infrage.«
»Sie könnte aber auch versuchen, dem Jungen zur Flucht zu verhelfen«, sagte Sigurður Óli. »Dieser seltsame Schachzug bringt Niran in den Fokus der Ermittlungen, also das, was er womöglich weiß und getan hat. Das dürfen wir nicht übersehen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er seinem Bruder etwas angetan hat«, sagte Elínborg. »Das scheint mir nicht wahrscheinlich. Es kann gut sein, dass er etwas weiß und dass er Angst hat oder so etwas, aber meiner Meinung nach hat er nichts direkt mit dem Vorgefallenen zu tun.«
»Ach, wenn wir uns doch bloß darauf verlassen könnten, was du dir so vorstellen kannst, Elínborg«, sagte Sigurður Óli. »Wär die Welt dann nicht
honky-dory
?«
»Was soll denn das mit diesem verdammten
honky-dory
?« Sigurður Óli lächelte.
»Sunee wurde gesagt, dass es noch nicht feststeht, wann die Leiche zur Beerdigung freigegen wird«, sagte Erlendur. »Es könnte sein, dass sie damit Zeit zu gewinnen versucht. Aber Zeit wozu?«
»Wartet sie darauf, dass wir den Fall lösen?«, sagte Sigurður Óli. »Wie auch immer wir das anpacken wollen.«
»In der Schule beziehungsweise in dem Wohnviertel hat es kleinere ausländerfeindliche Zwischenfälle gegeben«, sagte Erlendur, »und daran war Niran in irgendeiner Form beteiligt. Elías hatte aber nicht unbedingt etwas damit zu tun, sondern immer nur Niran. Als Elías überfallen wird, verschwindet Niran, oder besser, er kommt nicht nach Hause. Als er das endlich tut, steht er ganz augenscheinlich unter starkem Schock. Vielleicht hat er gesehen, was passiert ist, vielleicht hat er aber auch nur davon gehört. Er stand unter Schock, als ich ihn im Keller bei den Mülltonnen fand, da hatte er sich versteckt und fühlte sich sicher. Niran hat seiner Mutter gesagt, was er weiß, und ihre Reaktion darauf war, ihn zu verstecken. Was schließen wir daraus?«
»Sie wissen, was vorgefallen ist«, sagte Sigurður Óli. »Niran weiß es und hat es seiner Mutter gesagt.«
Erlendur sah Elínborg an.
»Irgendetwas ist passiert, während Niran mit seiner Mutter allein war«, sagte sie. »Mehr wissen wir nicht, alles andere ist Spekulation. Es muss gar nicht sein, dass sie etwas wissen. Sie hat gerade einen Sohn verloren und will nicht noch einen verlieren.«
»Aber was ist mit dem, was unser kleiner Junkie ausgesagt hat, dass Niran und seine Freunde dealen?«
»Diesem Mädchen kann man doch kein Wort glauben«, sagte Elínborg.
»Kann es sein, dass Sunee sich bei uns nicht mehr sicher gefühlt hat«, gab Erlendur zu bedenken, »in dieser isländischen Gesellschaft? Kann das eine Erklärung dafür sein, warum sie ihren Sohn versteckt hält? Wir haben keine Ahnung, wie es den Zuwanderern in unserem Land geht. Wir haben keine Ahnung, was es heißt, seine Heimat zu verlassen, mit einem Mal hier zu leben, eine Familie zu gründen und in unserer Gesellschaft funktionieren zu müssen, wenn man vom anderen Ende des Erdballs kommt. Es ist mit Sicherheit nicht einfach, und unsereins tut sich sehr schwer damit, sich in diese Situation hineinzuversetzen. Man könnte sagen, dass rassistische Vorurteile hier vielleicht nicht an der Tagesordnung sind, aber wir wissen genau, dass nicht alle mit der Entwicklung der Dinge einverstanden sind.«
»Meinungsumfragen zeigen, dass junge Isländer in der Mehrzahl finden, dass es jetzt reicht«, warf Sigurður ein. »Dies beweist, dass junge Leute nicht gerade begeistert von der multikulturellen Gesellschaft sind.«
»Wir sind dafür, dass die Ausländer hierherkommen und die Drecksarbeiten erledigen, beim Bau von Kraftwerken, in der Fischverarbeitung und als Putzleute, solange Arbeitskräfte gebraucht werden, aber dann sollen sie wieder verschwinden«, sagte Elínborg. »Vielen Dank für die Hilfe, aber kommt bloß nicht wieder! Um Himmels willen keine Eingliederung! Falls sie dennoch unbedingt bleiben wollen, sollen sie sich gefälligst von uns fernhalten. Genau wie die Amis in der Basis, die wurden ja auch immer innerhalb der Umzäunung gehalten. Stand es nicht sogar in den Verträgen, dass keine Schwarzen in Island stationiert sein durften? Ich glaube, es ist noch immer eine ganz verbreitete Meinung, dass man Ausländer am besten in einem Ghetto hält.«
»Nicht auszuschließen, dass sie die Umzäunung selber errichten«, sagte Sigurður Óli. »Es geht keineswegs um eine Maßnahme nur von der einen Seite, ich glaube, das vereinfacht die Sache zu sehr. Es gibt
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