Frostnacht
dachte.«
»Sindri ist in Ordnung«, entgegnete Erlendur. »Er verdient sich ja auch schließlich seinen Lebensunterhalt selbst.«
Er hatte nicht vorgehabt, ihr Vorwürfe zu machen, und er hatte auch keine Andeutungen machen wollen, das war ihm einfach so herausgerutscht. Er sah, dass es Eva naheging. Er wusste ja nicht einmal, ob sie Arbeit hatte oder nicht.
»Ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu streiten«, sagte sie.
»Nein, ich weiß«, erwiderte er. »Es hat ja auch keinen Zweck, mit dir zu streiten, das hat sich immer wieder herausgestellt. Genauso gut könnte man rausgehen und in den Wind brüllen. Ich habe keine Ahnung, was du machst oder wo du die ganze Zeit gewesen bist, und das ist gut so. Das geht mich nichts an, da hast du recht. Es geht mich nichts an. Möchtest du Kaffee?«
»Okay«, sagte Eva.
Sie drückte die Zigarette aus und nahm gleich die nächste aus der Schachtel, zündete sie aber noch nicht an. Erlendur ging in die Küche und setzte Kaffee auf, und bald begann das Kaffeewasser rülpsend in die Kanne zu tröpfeln. Er fand eine Packung Kekse, doch da das Verfallsdatum schon mehr als einen Monat überschritten war, wanderten sie in den Abfalleimer. Mit zwei großen Kaffeebechern in der Hand kehrte er ins Wohnzimmer zurück.
»Wie kommst du mit der Ermittlung vorwärts?«
»Kaum«, antwortete Erlendur.
»Wisst ihr denn, was da vorgefallen ist?«
»Nein«, sagte Erlendur, »möglicherweise werden in der Nähe der Schule Drogen verkauft, vielleicht sogar auch in der Schule selbst«, sagte er und nannte den Namen der beiden Schwestern, die Eva aber nicht kannte. Sie wusste, dass auf Schulhöfen mit Drogen gedealt wurde, das hatte sie vor ein paar Jahren selber auch gemacht.
Erlendur holte die Kaffeekanne aus der Küche, schenkte ein und setzte sich anschließend wieder in seinen Sessel. Während sie den Kaffee tranken, betrachtete er seine Tochter eingehender. Es kam ihm so vor, als sehe sie älter aus, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte, älter und vielleicht auch reifer. Erst nach einiger Zeit begriff er, was geschehen war. Eva schien nicht mehr die freche Göre zu sein, die ständig gegen ihn rebellierte und ihn anschnauzte, wenn ihr der Sinn danach stand. In diesem Mantel wirkte sie eher wie eine junge Frau. Die pubertäre Aufmüpfigkeit, die sie so lange an den Tag gelegt hatte, war verschwunden.
»Sindri und ich haben auch viel über deinen Bruder gesprochen, der gestorben ist«, sagte Eva, während sie sich die nächste Zigarette anzündete.
Sie sagte das so unbefangen, als handele es sich um irgendeine x-beliebige Zeitungsmeldung. Für einen Augenblick stieg in Erlendur die Wut auf seine Tochter hoch. Was mischte sie sich da ein! Ein ganzes Menschenalter war seit dem Tod seines Bruder vergangen, aber die Erinnerung daran wühlte Erlendur immer noch auf. Er hatte nie zuvor mit jemandem über seinen Bruder gesprochen, erst Eva hatte einmal die Einzelheiten darüber aus ihm herausgelockt. Manchmal bereute er es, sich dadurch verwundbar gemacht zu haben.
»Was habt ihr denn über ihn gesagt?«
»Sindri hat mir erzählt, wie er von dieser Geschichte erfahren hat, als er da in den Ostfjorden gearbeitet hat. Die Leute konnten sich gut an dich und deinen Bruder und an Oma und Opa erinnern, Leute, von denen wir beide nie im Leben etwas gehört hatten.«
Sindri hatte Erlendur davon erzählt, als er eines Tages urplötzlich bei ihm auftauchte, nachdem er nach Reykjavík zurückgekehrt war. Er hatte ihm gesagt, was er über Erlendur und seinen Bruder und den Vater und die schicksalhafte Nacht in den Bergen erfahren hatte, als das Unwetter aus heiterem Himmel über sie hereinbrach.
»Wir haben darüber gesprochen, was er gehört hat«, sagte Eva Lind.
»Was er gehört hat«, echote Erlendur. »Wozu redet ihr beide über …«
»Vielleicht habe ich deswegen diesen Traum gehabt«, fiel ihm Eva ins Wort. »Weil wir über ihn gesprochen haben, deinen Bruder.«
»Was hast du geträumt?«
»Wusstest du, dass manche Leute ihre Träume aufschreiben? Das mach ich nicht, aber eine Freundin von mir notiert sich alles, was sie träumt. Ich träum sowieso nie was, oder ich kann mich nicht daran erinnern. Mir hat einer gesagt, dass wir alle träumen, aber nur einige können ihre Träume erinnern.«
»Sich an ihre Träume erinnern«, korrigierte Erlendur. »Worüber redet ihr beiden?«
»Wie hieß dein Bruder?«, fragte Eva, ohne auf seine Frage einzugehen.
»Er hieß Bergur«, sagte
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