Frostnacht
Erlendur. »Mein Bruder hieß Bergur. Was hat Sindri da in den Ostfjorden gehört?«
»Hätte man ihn nicht finden müssen?«, fragte Eva.
»Es wurde nichts unversucht gelassen«, sagte Erlendur. »Die Rettungsmannschaften und die Leute aus der Gegend, alle, die dazu imstande waren, haben nach uns gesucht. Ich wurde gefunden. Wir hatten uns bei dem Unwetter aus den Augen verloren. Er wurde nicht gefunden.«
»Ja, aber ich meine doch, hätte er nicht später gefunden werden müssen?«, sagte Eva, die jetzt genauso störrisch klang wie früher seine Mutter. »Irgendwelche Überreste, Knochen?«
Erlendur wusste nur zu gut, worüber Eva sprach, obwohl er sich nichts anmerken ließ. Sindri hatte wahrscheinlich in den Ostfjorden davon gehört, wo man immer noch über die Jungen redete, die vor vielen Jahren mit ihrem Vater vom Schneesturm überrascht wurden und sich verirrten. Erlendur waren verschiedene Spekulationen zu Ohren gekommen, bevor er mit seinen Eltern nach Reykjavík zog. Jetzt saß ihm seine Tochter gegenüber, die nur das wenige über die Sache wusste, was Erlendur ihr erzählt hatte, und wollte über die Gerüchte reden, die über den Verbleib des Kindes kursierten. Nach all dieser Zeit kreuzte sie auf einmal wieder bei ihm auf, um mit ihm über seinen Bruder, über die Erinnerungen zu reden, die ihn seit seinem zehnten Lebensjahr quälten.
»Das muss nicht sein«, sagte Erlendur. »Hast du was dagegen, wenn wir uns über etwas anderes unterhalten?«
»Warum willst du nicht darüber reden? Warum ist das so schwierig für dich?«
»Bist du deswegen gekommen? Um mir zu sagen, was du geträumt hast?«
»Weshalb ist er nie gefunden worden?«, fragte Eva.
Er verstand diese Hartnäckigkeit seiner Tochter nicht. Er vermied es, zu viel über die Sache nachzudenken. Es hatte damals Aufsehen erregt, dass die sterblichen Überreste seines Bruders nie gefunden wurden, nicht mal eine Mütze, ein Schal oder Handschuh. Nichts. Die Menschen spekulierten darüber, weshalb.
»Ich will nicht darüber reden«, sagte er. »Vielleicht später mal. Erzähl mir lieber was über dich. Wir haben uns lange nicht gesehen. Was hast du so getrieben?«
»Du warst dabei«, bohrte Eva weiter und ließ nicht locker. »Du warst in diesem Traum. Ich hab noch nie so klar von etwas geträumt. Von dir hab ich nicht geträumt, seit ich klein war, und da wusste ich nicht einmal, wie du aussiehst.«
Erlendur schwieg. Seine Mutter hatte versucht, ihm beizubringen, dass man Träume ernst nehmen sollte, aber er hatte sich immer dagegen gesträubt und war nicht darauf eingegangen. Erst in den letzten Jahren hatte sich seine Einstellung etwas geändert.
Trotz allem war seine Neugierde jetzt erwacht. Eva hatte behauptet, nie etwas zu träumen oder sich nicht an das zu erinnern, was sie träumte, und dasselbe hatte seine Mutter gesagt. Die Träume seiner Mutter hatten erst angefangen, als sie über dreißig war; sie hatte von Todesfällen, Geburten, unvorhergesehenen Gästen und vielem anderen geträumt, was erstaunlich häufig in Erfüllung ging. Doch den Tod ihres Sohnes sah sie nicht voraus, und nur ein einziges Mal nach seinem Tod erschien er ihr in einem Traum, den sie Erlendur daraufhin erzählt hatte: Es war Sommer, und der Junge stand in der Haustür und lehnte sich an den Pfosten. Er kehrte seiner Mutter den Rücken zu, und sie konnte nur seine Umrisse sehen. So verging eine ganze Zeit. Und sosehr sie es versuchte, es gelang ihr nicht, sich ihm zu nähern. Sie hatte das Gefühl, sich nach ihm auszustrecken, aber er schien sie nicht wahrzunehmen. Dann straffte er sich, neigte den Kopf und vergrub die Hände in den Hosentaschen, wie es manchmal seine Art war, ging in die Sonne hinaus … und verschwand. Das geschah sechs Jahre nach dem Unglück, und sie waren bereits nach Reykjavík umgezogen.
Erlendur selber träumte nie von seinem Bruder und erinnerte sich darüber hinaus nur selten an seine Träume. Es konnte aber passieren, dass er sich zu intensiv in den einen oder anderen Fall hineindachte. Das konnte ihm schlechte Träume in der Nacht bescheren, auch wenn er morgens nicht mehr genau wusste, was er geträumt hatte. Er brauchte lange, um zu verarbeiten, dass Eva nach all der Zeit zu ihm gekommen war, um ihm von ihrem Traum zu erzählen, der sie beide betraf.
»Was hast du geträumt, Eva?«, fragte er zögernd. »Was geschah da in deinem Traum?«
»Sag mir zuerst, wie er gestorben ist.«
»Das weißt du«, sagte Erlendur. »Er
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