Frostnacht
wiederkommen.
»Dein Junge ist da drinnen«, sagte der Arzt und machte eine Kopfbewegung in Richtung einer geschlossenen Tür. »Ich komme später wieder«, wiederholte Erlendur.
»Ich habe nichts finden können«, sagte der Arzt.
»Ist schon in Ordnung, ich …«
»Er hatte Dreck unter den Nägeln, aber meiner Meinung nichts Ungewöhnliches. Zwei Nägel waren abgebrochen. Wir haben Stoffpartikel gefunden. Es ist zu tätlichen Auseinandersetzungen gekommen, das sieht man auch an dem Anorak, der ist zerrissen. Hat nicht die Mutter erklärt, dass der Anorak heil gewesen ist? Da lassen sich sicher Rückschlüsse draus ziehen, wenn die Kleidung des anderen gefunden wird. Deine Kollegen von der Spurensicherung untersuchen gerade, um was für einen Stoff es sich handeln könnte. Möglich aber auch, dass die Partikel von seiner eigenen Kleidung stammen.«
»Und der Stich?«
»Keine neuen Ergebnisse diesbezüglich«, sagte der Arzt, der Erlendur inzwischen bis zur Tür begleitet hatte. Er öffnete sie. »Der Stich ist bis zur Leber vorgedrungen, und der Junge ist innerhalb kurzer Zeit verblutet. Die Wunde ist nicht sehr groß, und das Blatt war ziemlich breit, muss aber nicht besonders lang gewesen sein. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was für ein Gegenstand das gewesen sein soll.«
»Ein Schraubenzieher?«
Das Gesicht des Arztes verzerrte sich. Er wurde anderweitig gebraucht.
»Das glaube ich kaum, es war etwas Schärferes. Der Schnitt ist nämlich sehr fein.«
»Aber er ist nicht durch den Anorak gegangen?«
»Nein, der muss offen gewesen sein. Der Stich ging durch einen ziemlich dünnen Pullover und ein Unterhemd, mehr Widerstand gab es nicht. Das war seine einzige Rüstung.«
»Hat es Blutspritzer gegeben?«
»Nicht unbedingt. Es handelt sich um einen glatten Stich, und es waren wohl vor allem innere Blutungen. Deswegen muss es nicht sein, dass der Täter Blutspritzer abbekommen hat. Trotzdem ist es denkbar, dass er sich gründlich säubern musste.«
Der Arzt schloss die Tür. Erlendur ging zu der Leiche, hob das Laken, das über sie gebreitet war, und sah sich die kleine Stichwunde an. Ihm ging die Frage durch den Kopf, ob der Gegenstand, mit dem Kjartans Auto eingeritzt worden war, auch dazu verwendet worden war, auf den Jungen einzustechen. Die Wunde war so klein, dass man sie kaum sehen konnte, aber sie war genau an der Stelle, an der sie die schlimmsten Folgen hatte. Ein paar Zentimeter höher oder tiefer, und Elías hätte eine Überlebenschance gehabt. Darüber hatte Erlendur bereits mit dem Arzt gesprochen, der sich zwar nicht festlegen wollte, aber durchaus nicht ausschloss, dass der Täter möglicherweise genau gewusst hatte, was er tat.
Während Erlendur Elías’ Leiche wieder zudeckte, dachte er daran, was Sunee wohl dabei empfinden musste, ihren Sohn an diesem schrecklichen Ort zu wissen. Früher oder später würde sie mit der Polizei zusammenarbeiten, etwas anderes war undenkbar. Vielleicht war sie der Ansicht, dass ihr Sohn in Gefahr war. Vielleicht ging es ihr darum, Niran vor dem Aufruhr in der Öffentlichkeit zu schützen, der auf den Tod von Elías gefolgt war. Möglicherweise wollte sie vermeiden, dass Bilder von ihm in den Zeitungen und Medien erschienen. Vielleicht wollte sie dieses öffentliche Interesse vermeiden. Und vielleicht, ja vielleicht wusste Niran etwas, was Sunee dazu veranlasst hatte, ihn zu verstecken.
Als Erlendur losfuhr, hatte sich der Frost noch verschärft, und das blaukalte Grauen des Leichenschauhauses spiegelte sich in seinen Augen.
Sunee nahm ihn an der Tür in Empfang. Sie glaubte, er würde ihr etwas Neues über die Ermittlungen mitteilen können, aber Erlendur gab ihr gleich zu verstehen, dass es nichts zu berichten gäbe. Sie war noch auf, aber ihr Bruder schlief bereits in ihrem Zimmer. Erlendur spürte, dass sie froh war, nicht allein sein zu müssen. Er hatte nie mit ihr gesprochen, ohne dass der Bruder oder die Dolmetscherin dabei gewesen waren. Sie führte ihn ins Wohnzimmer und ging dann in die Küche, um Tee zu machen. Als sie zurückkam, setzte sie sich aufs Sofa und goss ihnen Tee ein.
»Viele Leute kommen draußen«, sagte sie.
»Alle sind gegen Gewalt«, sagte Erlendur. »Niemand will das.«
»Ich danken alle«, sagte Sunee. »War schön.«
»Wirst du mir deinen Sohn anvertrauen?«, fragte Erlendur. Sunee schüttelte den Kopf.
»Du kannst ihn nicht ewig verstecken.«
»Du Mörder finden«, sagte Sunee. »Ich Niran
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