Frostnacht
gesehen.
»Niemand ist bis hier nach oben gekommen«, erklärte der Polizist, bevor Erlendur sich von ihm verabschiedete.
Obwohl es bereits ziemlich spät war, musste Erlendur noch einen Besuch machen. Er hatte den Mann am späten Nachmittag angerufen und sich beim ihm zu Hause mit ihm verabredet. Er kam sofort zur Tür, als Erlendur klingelte, und ließ ihn eintreten. Erlendur war früher einmal dort gewesen und hatte sich auch da schon nicht wohlgefühlt. Er wusste nicht genau, was es war. Er spürte, dass da irgendetwas nicht stimmte. Irgendetwas mit dem Wohnungsinhaber.
Der Mann hatte ferngesehen, schaltete den Apparat aber jetzt ab und bot Erlendur Kaffee an. Der lehnte dankend ab, indem er auf seine Uhr schaute und erklärte, nur ganz kurz bleiben zu können. Er entschuldigte sich nicht dafür, dass er so spät gekommen war. Ihm fiel ein gerahmtes Foto des Ehepaars auf einem Beistelltisch auf. Beide lächelten. Sie waren vor der Trauung zu einem Fotografen gegangen und hatten sich fotografieren lassen. Sie hielt einen Blumenstrauß in der Hand.
»Du bist bei deinen Exfrauen nicht sehr beliebt«, sagte Erlendur. »Ich habe so einiges von ihnen gehört.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte der Mann.
Erlendur konnte verstehen, wieso Frauen auf ihn flogen, wenn er denn ihrem Typ entsprach. Er war ein schlanker, gepflegter und liebenswürdig wirkender Mann mit dunklem Haar und braunen Augen, feingliedrigen Händen und südländischem Teint. Der exquisite Geschmack seiner Kleidung war Erlendur völlig fremd. Die Wohnung war elegant und topmodern eingerichtet, insbesondere die Küche war luxuriös eingerichtet, den Bodenbelägen sah man an, wie teuer sie gewesen sein mussten. An den Wänden hingen Grafiken. Das Einzige, was fehlte, war eine Spur von Leben und persönlicher Atmosphäre.
Erlendur überlegte, ob er dem Mann von den Anrufen erzählen sollte, die aller Wahrscheinlichkeit nach von seiner Ehefrau stammten. Der Mann hatte ein Recht darauf, Bescheid zu wissen. Falls Erlendurs Verdacht sich bestätigte, war seine Frau am Leben, was ihn freuen müsste. Erlendur wusste selber nicht ganz genau, warum er ihm nicht alles sagte. Dieser Mann hatte etwas Erbarmungsloses an sich, das er nicht imstande war zu ergründen.
»Nein, sicherlich nicht«, sagte Erlendur. »Die eine von ihnen hat gesagt, du hättest damit gedroht, sie umzubringen.«
Er sagte das gerade so, als rede er über das Wetter, doch der Mann zeigte keinerlei Reaktion. Vielleicht hatte er damit schon gerechnet.
»Silla tickt nicht richtig«, sagte er nach längerem Überlegen. »Das war schon immer so.«
»Du gibst es also zu?«
»So was sagt man doch, ohne darüber nachzudenken, du hast das bestimmt auch schon mal gesagt. Damit meint man doch nichts.«
»Sie behauptet das Gegenteil.«
»Darf ich fragen, ob ich es jetzt bin, den ihr unter die Lupe nehmt? Glaubst du womöglich, dass ich ihr etwas angetan hätte? Meiner Frau?«
»Ich weiß ni…«
»Es geht um einen Vermisstenfall!«, fiel ihm der Mann ins Wort. »Ich habe ihr nichts angetan. Das ist ein ganz normaler Vermisstenfall!«
»Meines Wissens gibt es keine normalen Vermisstenfälle«, entgegnete Erlendur.
»Du weißt ganz genau, was ich meine. Alles, was ich sage, erscheint dir verdächtig.«
Erlendur wusste, was er meinte. Ein normaler Vermisstenfall. Ob es wohl sonst noch auf der Welt ein Land gab, wo man von »normalen Vermisstenfällen« redete?, dachte er bei sich. Vielleicht hatte die Geschichte die Menschen in Island tatsächlich gelehrt, sich nicht allzu sehr über Vermisstenfälle aufzuregen.
»An ihrem Verschwinden ist nichts Normales«, sagte Erlendur.
Er zögerte einen Augenblick. Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, die nicht mehr umzukehren war. Von jetzt an würde es von Grund auf anders und weitaus ernster werden.
»Hast du ihr damit gedroht, sie umzubringen?«, fragte Erlendur.
Der Mann starrte Erlendur sichtlich wütend an. »Behandelst du den Fall jetzt als Mord?«, fragte er.
»Weshalb ist sie von zu Hause fortgegangen?«
»Ich habe euch schon wer weiß wie oft gesagt, dass ich keine Ahnung habe, was passiert ist. Ich kam nach Hause, und sie war nicht hier! Das ist das Einzige, was ich weiß. Das müsst ihr mir glauben. Ich habe ihr nichts angetan, und ich finde es empörend, falls du etwas anderes andeuten willst!«
Der Mann machte einen Schritt auf Erlendur zu.
»Das ist mein Ernst! Empörend!«
»Wir müssen alle Möglichkeiten in
Weitere Kostenlose Bücher