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Frucht der Sünde

Frucht der Sünde

Titel: Frucht der Sünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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und mit uns beten?»
    Die Spannung in der Kirche war fast mit Händen zu greifen. Die Gesichter wandten sich in Richtung der Kapelle, in der Thomas Bull mit ruhelosen Augen in die Ewigkeit starrte.
    Merrily saß in der letzten Bank der Nordseite. Stefan hatte offenkundig keine Schwierigkeiten damit gehabt, die Frauen davon zu überzeugen, sich ohne ihre Männer auf die Nordseite zu setzen.Minnie Parry saß in ihrem dunkelbraunen Wollkleid ganz vorn, einige Bänke hinter ihr saßen zumeist Zugezogene in Samtroben eng beieinander.
    Stefan fuhr sich mit dem Arm über die Stirn. Dann hob er den Blick zur Decke.
    «Es wird dunkel», sagte er, «und wir haben nicht mehr viel Zeit.»
    Er stand inzwischen vor der Seite der Frauen, nahe bei Minnie. Merrily hatte Gomer, der in seinen guten Anzug gezwängt war, auf der anderen Seite des Mittelganges sitzen sehen. Die Bank hinter Gomer war leer, bis auf die einzige Frau, die sich wenig überraschend geweigert hatte, zur Nordseite zu gehen. Dennoch wirkte Annie Howe seltsam unruhig.
    «Bessie!», rief Stefan plötzlich aus. «Wo bist du, Bessie Cross?» Er ging ein paar Schritte den Mittelgang hinunter und ließ seinen Blick über die Köpfe schweifen. «Bessie Cross! Lass mich jetzt nicht im Stich!»
    An der drittletzten Bank blieb er stehen. Er wartete. «Bessie!»
    Zwei Reihen vor Merrily bewegte sich eine Frau. Es war Teresa Roberts, eine Bauernwitwe Ende sechzig, eine freundliche, bescheidene Seele und regelmäßige Kirchgängerin. Sie hatte zu denjenigen gehört, die sich Stefan von Merrily hatte zeigen lassen.
    Teresa sagte zögernd: «Bessie Cross   … war meine Großmut   …» Stefan hatte sich zu ihr gelehnt, nach ihren Händen gegriffen und sie auf die Füße gezogen.
    «Bessie! Wie geht es dem Mädchen? Wie geht es Janet? Ich habe oft für sie gebetet. Bessie, hab keine Angst, er ist nicht hier. Bull ist nicht hier, wir können reden. Wie geht es ihr jetzt, Bessie, hat Janet ihren Frieden?»
    Die Frau neben Teresa blickte kurz auf, und Merrily erkannte zu ihrem Erstaunen Caroline Cassidy. Sie trug ein dunkelbraunes Cape und musste allein und recht spät gekommen sein.
    Immer noch Teresas Hand haltend, wandte sich Stefan mit erhobener Stimme an die gesamte Gemeinde.
    «Ihr wisst alle davon. Ihr wisst alle, was Bessies Tochter passiert ist, als sie gegen Abend auf die Weide von Bull gegangen ist, um ihren Hahn zu suchen, weil sie fürchtete, dass der Fuchs ihn holt. Sie wurde festgehalten und beschuldigt, den Hahn gestohlen zu haben.»
    Ein Murmeln ging durch die Kirche. Das musste eine der Geschichten gewesen sein, die Richard Coffeys Mann recherchiert hatte. Die Epoche passte nicht, denn Teresa Roberts’ Großmutter hatte zur viktorianischen Zeit gelebt, also etwa hundert Jahre nach Wil Williams. Doch das störte offenkundig niemanden, und Stefan erreichte sein Ziel – er beschwor Erinnerungen an eine Gestalt herauf, die das Dorf jahrhundertelang dominiert hatte: der ewige Bull.
    «Und Bull sagte zu dem Kind: ‹Also, Janet, willst du vor den Richter treten und Schande über deine Familie bringen, oder sollen wir die Sache lieber jetzt gleich gemeinsam aus der Welt schaffen?›»
    Stefan hielt inne.
    «Gemeinsam aus der Welt schaffen»
, wiederholte er leise und bedrohlich. «Bessie, meine arme, gute Frau, sind meine Worte wahr?»
    Teresa Roberts sagte: «Ja, meine Mutter, sie hat mir immer erzählt   …»
    «Wie alt war sie, Bessie? Wie alt war Janet, als sie sich vor Bull rechtfertigen sollte?»
    Es war sehr still in der Kirche. Die Macht der Schauspielerei. Macht. Merrily hatte diese Macht über ihre Gemeinde nie besessen und nie besitzen wollen, doch manchem Pfarrer kamen darstellerische Qualitäten wohl sehr zugute.
    Teresa sagte: «Zwölf, sie war zwölf Jahre alt.»
    «Hat sie inzwischen aufgehört zu weinen?», fragte Stefan sanft. «Hat das arme Kind aufgehört, nächtelang zu weinen?»
    «Sie   … sie hat nie damit aufgehört. Hat immer in ihrem Bett geweint. Keine Woche, in der sie nicht geweint hat, sagte meine Mutter immer.»
    «
Gemeinsam aus der Welt schaffen.
Was bedeutete das? Wollte er sie schlagen? Wurde dir das nicht vom Verwalter gesagt, der das Kind nach Hause brachte?»
    «Das hat er gesagt.»
    «Schläge? Haben Schläge solche Auswirkungen? Auf ein Bauernmädchen, ein kräftiges, gesundes, mutwilliges Kind?»
    Teresa Roberts sagte schmerzerfüllt: «Bitte   …»
    «Machen Sie sich keine Sorgen», flüsterte Stefan ihr zu, sodass

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