Frucht der Sünde
sollen. Oder legte er es darauf an, dass das Stück ein Misserfolg wurde, weil Stefan ihn mehr oder weniger ausgeschlossen hatte?
«Und was bedeutet es für Sie, Merrily?», fragte Stefan.
«Ich weiß nicht», sagte sie ehrlich. «Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht erhoffe ich mir Klarheit über Dinge, die ich nicht verstehe.»
«Jeder kann seine eigenen Fragen an das Stück und die Situation stellen. Darum geht es, oder? Ich werde auf alle Fragen antworten können. Da bin ich sicher.»
Merrily ging in die leere Kirche. Die Atmosphäre wirkte verändert. Es war seltsam beunruhigend. Eine Aufgeregtheit schien im Raum zu liegen. Merrily war sicher, dass etwas Ungewöhnliches passiert war. Sie ging am Taufbecken vorbei in den Mittelgang. Die Türzum Kirchturm in der nordwestlichen Ecke war geschlossen und verriegelt. Die Spannung, die Merrily zu empfinden meinte, kam aus dem Inneren der Kirche.
Sie blieb an der Turmtür stehen. Am anderen Ende der Nordseite stand die Orgel. Der Vorhang vor dem Platz des Organisten war zugezogen. Sie dachte an bösartige Gnome, ging nach vorn und zog den Vorhang zur Seite.
Der Platz des Orgelspielers erinnerte sie merkwürdig an die Pilotenkanzel in einem altmodischen Flugzeug. Merrily schaltete die verschnörkelten Messinglampen an, die das Manual und die Registerzüge beleuchteten. Ihr fiel nichts Besonderes auf, und dennoch hielt sie einen Moment inne und dachte, was ihr bis zum Morgen undenkbar erschienen war: dass nämlich Dermot Child etwas mit dem Verschwinden von Colette Cassidy zu tun haben könnte.
Er hatte zwar gelacht, als er sich auf dem Grabstein vor ihr entblößt hatte, doch in Wahrheit war es ein Akt der Gewalt gewesen. Sie hatte Dermot dazu gebracht, die Beherrschung zu verlieren, und er hatte seinen Schwanz wie eine Waffe, wie ein Messer zur Schau gestellt. Ein launisches Kind, das sich in einen verbitterten, zynischen Mann mittleren Alters verwandelt hatte, der sich zu Höherem bestimmt glaubte. Er war eingebildet genug, um zu glauben, dass sich jüngere Frauen für ihn interessieren könnten. War er auch gewissenlos genug, um einer Sechzehnjährigen aufzulauern, von der alle behaupteten, sie warte nur darauf, mit jemandem schlafen zu können?
Beim Hinausgehen schaltete Merrily die Lampen wieder aus und zog den Vorhang zu. Vielleicht sollte sie doch Dermots Spiel spielen und Annie Howe einen anonymen Brief schreiben. Vielleicht aber sollte sie auch ihren Stolz herunterschlucken und selbst zu ihr gehen.
Immer noch beunruhigt, ging sie am Lettner vorbei und dieStufen zum Altarraum hinauf. Auch hier fand sie nichts Auffälliges.
Dann betrat sie die Seitenkapelle, die parallel zum Altarraum verlief. Die Kapelle der Bulls. In das hohe Ostfenster drang kaum noch Licht, aber durch die Scheiben des größeren Bleiglasfensters an der Nordseite fielen die Strahlen der tiefstehenden Sonne auf das Gesicht Thomas Bulls, auf seinen gestutzten Bart, seine vollen Lippen und seine unheimlichen, offenen Augen.
In dem kalten Licht wirkte dieser Ort beklemmend. Doch da war nur der schlaflose Bull in seinem schlichten Sandsteingewand, und die matte Klinge seines steinernen Schwerts ruhte friedlich an seiner Seite. Es störte Merrily, dass diese Kapelle direkt neben dem Altarraum lag, sodass man kaum an den Altar treten konnte, ohne einen Blick auf Thomas Bull zu werfen.
Unter ihrem Schuh knirschte etwas. Sie beugte sich hinunter. Zementstaub oder Sandsteinkrümel lagen am Fuße des Grabmals. Direkt an der Stelle, an der es offenbar irgendwann einmal repariert worden war. Als hätte Tom Bull im Grab die Beine ausgestreckt und ein paar Ziegelsteine herausgetreten.
Entsetzt fuhr sie zurück. Es sah nämlich so aus, als habe er genau das wirklich getan.
Merrily holte tief Luft. Thomas Bull schien sie spöttisch anzublicken, als sie ihren Rock raffte, um sich unter seinem steinernen Stiefel auf den Boden zu knien.
Der Fugenzement zwischen zwei Ziegelsteinen war entfernt worden.
Sie zog mit beiden Händen an einem der Steine. Er ließ sich leicht bewegen, und sie legte ihn neben sich auf den Boden. Als sie auch noch den zweiten Stein entfernt hatte, gähnte sie ein dunkles Loch an. Sie hatte keine Kerze dabei. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, sie steckte ihre Hand in die Öffnung.
Seine Knochen. Wenn du ihn berührst, zerfällt er zu Staub.
Doch sie berührte ihn nicht. Ein leichter Luftzug fuhr über ihre Finger. Bebend zog sie die Hand zurück.
«Kommst
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