Fruchtbarkeit - 1
Alter spricht man nicht so davon, ins Kloster zu gehen, als ob du zu Hause nur Ursache zu Trauer und Kummer hättest. Ich glaube doch, dir gegenüber meine Pflicht erfüllt zu haben, ich habe mir glücklicherweise nichts vorzuwerfen … Wahrlich, du kennst zur Genüge meine tiefe Religiosität, ich habe dich genügend in Ehrfurcht vor unserm Glauben erzogen, daß es mir erlaubt ist, dir zu sagen, daß du Gott lästerst, indem du ihn mit der eigensinnigen Laune eines kranken Kindes in Verbindung bringst. Man geht nicht ins Kloster, wenn man nicht gehorsam ist, und Gott will keine Kinder, die ihre Mutter kränken, nachdem sie von ihnen nur gute Beispiele empfangen haben.«
Die Augen Lucies waren nun an denen ihrer Mutter haftengeblieben; und, je länger sie sprach, desto mehr vergrößerten sich vor Entsetzen diese armen Augen eines in seiner Schwärmerei für himmlische Reinheit tödlich getroffenen unschuldigen Kindes, drückten die furchtbarsten Qualen aus, die zerstörte Achtung, die vernichtete Liebe, die ganze Verzweiflung einer armen jungen Seele, in der die kindliche Pietät zertrümmert worden.
Nun trat Séguin ein, gefolgt von Santerre und Mathieu. Während Valentine zu sprechen fortfuhr, ihm den Fall unterbreitete, seinen väterlichen Machtspruch aufrief, behielt er in den Mundwinkeln einen leichten ironischen Zug als wollte er sagen: »Was willst du, meine Liebe? Du hast sie so schlecht erzogen, daß sie unsinnige Launen haben.« Als die Mutter zu Ende war, wendete er sich gegen den Arzt, der es mit einer Gebärde ablehnte, etwas zu tun, da das Mädchen sich nicht untersuchen lassen wollte. Er blickte wohlgefällig auf Nora, als er bemerkte, daß sie gleich ihm über diese alberne Szene lächelte. Und er tat, als wolle er Mathieu zum Zeugen nehmen, ehe er das Urteil sprach, als Santerre glaubte, in scherzhafter Weife die Sache zum guten Ende führen zu können.
»Wie, meine kleine Lucette, ist das wahr, was die Mama erzählt? Nein, nein, sie irrt sich, nicht wahr? Du bist ein braves Kind. Komm, ich werde dir einen Kuß geben, und du wirst mir einen Kuß geben, und alles ist wieder gut. Ich stehe dir dafür ein, daß dein Papa und deine Mama dir verzeihen.«
Er lachte laut und beugte sich mit vorgestrecktem Gesichte gegen sie. Aber vor diesem Männergesichte, dieser Fleischmasse mit den großen glänzenden Augen, mit den halb in dem Bartwalde verborgenen dicken Lippen, geriet Luci in Bewegung, gab Zeichen eines tiefen Entsetzens, eines furchtbaren Abscheus.
»Kommen Sie mir nicht nahe, ich will nicht! Nein, küssen Sie mich nicht, Sie, küssen Sie mich nicht!«
Santerre achtete nicht darauf, wollte sie durchaus scherzhaft fassen, in der Hoffnung, ihren Eigensinn damit zu überwinden.
»Warum sollte ich dich nicht küssen, Lucette? Ich küsse dich doch alle Tage?«
»O nein, ich will nicht mehr! Lassen Sie mich, um der Barmherzigkeit willen! O nein, o nein, Sie nicht, niemals mehr!«
Und da er trotz ihrer Schreie das Spiel bis zum äußersten trieb, bäumte sie sich empor, und warf sich nach rückwärts, wich seinem Munde aus, wie einem glühenden Eisen. Diese Decke, die sie so dicht um ihren Hals gezogen hatte, warf sie nun in der besinnungslosen Angst ihrer Schamhaftigleit zurück, um zu fliehen, enthüllte ihre mageren Schultern, den geschmeidigen Körper des heranwachsenden Mädchens. Sie zitterte vor Entsetzen, sie wurde toll über all diese Abscheulichkeit, sie schluchzte und stammelte.
Und als sie glaubte, daß er sie trotz allem fassen und halten und küssen würde, ließ sie sich, von Ekel überwältigt, das schändliche Geheimnis entschlüpfen, das sie seit dem Morgen in stummer Erstarrung gehalten, ihr den eigensinnigen Entschluß eingeflößt hatte, nicht mehr leben zu wollen.
»Küssen Sie mich nicht! Nie, nie mehr! Ich habe Sie gesehen, gestern abend, im kleinen Salon, mit Mama! Oh, wie abscheulich, wie abscheulich!« Santerre fuhr erbleichend zurück. Eine tödliche Stille und Kälte schienen von der Decke herabgefallen zu sein. Alle standen erstarrt, warteten regungslos, unfähig, das Unabwendbare, das nicht wieder Gutzumachende zu verhindern.
Und Lucie fuhr, außer sich, verzweifelt fort: »Nono, ist zu mir gekommen, wie ich gerade einschlafen wollte, und hat gesagt, sie wird mir etwas Lustiges zeigen. Sie hat ein großes Loch in die Thür gebohrt, Nono, und sie schaut zur Unterhaltung abends durch. Ich habe geglaubt, daß Gaston mit Andrée irgendeine Dummheit macht, und bin
Weitere Kostenlose Bücher