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Fruchtbarkeit - 1

Fruchtbarkeit - 1

Titel: Fruchtbarkeit - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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nach Hause zu begleiten, so sehr flößte sie ihm Mitleid ein. Es war das Bedürfnis, das sie ihm schon so oft gestanden hatte, das alte Bedürfnis, ihn zum Vertrauten zu machen, ihr Herz zu erleichtern, indem sie ihm ihr namenloses Unglück zeigte, wovon sie zu niemand sonst sprechen konnte. Er, der einstige Geliebte, der Freund seit zwanzig Jahren, würde ihr teilnahmsvoll zuhören.
    »Ach, lieber Freund, ich lebe nicht mehr! Verzeihen Sie, wenn Sie hier alles in Unordnung finden,« sagte sie, indem sie ihn in ihre Erdgeschoßwohnung in der Rue de Marignan führte, die einst so heimlich, so wollüstig eingerichtet gewesen.
    Er war betroffen, als er eintrat. Zweifellos empfing sie hier nicht mehr die geheimnisvollen Besuche, auf welche die Wohnung berechnet gewesen zu sein schien. Die lustlosen Räume mit ihren schweren Vorhängen, ihren dicken Teppichen waren dem Staub und der Kälte anheimgefallen, schienen wie tot. Und besonders erkannte er kaum den kleinen Lieblingssalon, ohne sichtbare Fenster, lautlos wie ein Grab, in welchem er damals mitten am Tage bei gedämpften Schein der Kerzen in den zwei Kandelabern war empfangen worden. Er hatte seinen sinnverwirrenden Duft mit sich genommen, er erinnerte sich des Anfalls von toller Begierde, die ihn beinahe wieder hierher zurückgeführt hätte. Und dieser Salon war nicht mehr derselbe, ein Fenster ohne Vorhang erhellte ihn mit bleichem Licht, er schien erkaltet, abgenutzt, befand sich in einer abstoßenden Unordnung.
    »Ach, lieber Freund,« wiederholte Sérafine, »setzen Sie sich, wie Sie können. Ich habe kein Heim mehr, ich komme hierher nur, um mich in Klagen und Wut zu verzehren.«
    Sie zog ihre Handschuhe aus, legte Hut und Schleier ab. Er sah sie, wie sie ihm bereits bei ihren gelegentlichen Begegnungen erschienen war, aber ein wahres Entsetzen faßte ihn, als er sie nun näher betrachtete und sah, welch furchtbarer Verwüstung sie anheimgefallen war. Er rief sich in Erinnerung, wie sie vor wenigen Jahren noch ausgesehen hatte, als sie fünfundreißig Jahre alt war, die dreiste Schönheit ihres Gesichtes, ihre hohe, gebietende Gestalt, ihr flammendes Haar, ihre herausfordernde Brust und Schultern, ihre weiße, runzellose Haut. Welch furchtbarer Gifthauch war über sie hingefahren, daß sie plötzlich so gealtert war, einem Gespenste gleich geworden, als ob der Tod sie schon erfaßt hätte, und er da vor sich das fleischlose Skelett der triumphierenden Frau sähe, die er einst gekannt hatte? Sie war hundert Jahre alt.
    »Ja, Sie sehen mich noch immer an. Sie können es nicht glauben. Es geht mir auch so; wenn ich mich in einem Spiegel sehe, habe ich Furcht. Ich habe auch, wie Sie sehen, alle Spiegel verhängt, so sehr zittre ich davor, meinem Gespenst zu begegnen.«
    Er hatte sich auf ein niedriges Sofa gesetzt, und sie setzte sich nun an seine Seite und nahm seine Hände zwischen ihre abgemagerten Finger.
    »Wie, Sie fürchten nun nicht mehr, daß ich Sie vergewaltige? Ich bin nun eine alte Frau und kann Ihnen alles sagen … Meine Geschichte kennen Sie ja. Es ist wahr, ich war nicht dazu geschaffen, Gattin oder Mutter zu sein. Ich habe zwei Fehlgeburten gehabt und habe sie nie bedauert. Und mein Mann, den habe ich ebensowenig beweint, das war ein gefährlicher Toller. Sodann als Witwe war ich frei, nach meinem Gefallen zu leben, nicht wahr? Man kann mir keinen Skandal vorwerfen, ich habe meine Stellung in der Gesellschaft bewahrt, ich habe getan, was ich wollte, aber nur hinter verschlossenen Türen. Nur der Liebe, der Schönheit, der Wollust zu leben – das war mein Verlangen, das ich mit aller Kraft, mit heißem Wunsch zu erfüllen strebte. Und auch das muß ich Ihnen eingestehen, ich habe Ihnen die Unwahrheit gesagt, als ich Ihnen erzählte, daß ich krank sei, um die Operation gerechtfertigt erscheinen zu lassen, zu der ich mich angeblich schweren Herzens entschloß. Im übrigen dürften Sie nicht getäuscht worden sein, es war zu offenkundig … Ja, ich gestehe es! Ich habe der tollen Begierde nachgegeben, Herrin meiner Freuden zu sein, sie zu genießen, wie ich wollte, soviel ich wollte, ohne unaufhörlich von der unsinnigen Furcht vor dem Kinde eingeengt und eingeschüchtert zu werden. Und ich habe mich operieren lassen, um mich neben, über die Natur zu stellen, um meinen Körper zu dem einer Göttin zu machen, die außerhalb des Gesetzes steht. Ich habe nur der Sucht gelebt, bis an die letzten Grenzen menschlichen Genusses zu gelangen, alle

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