Fruchtbarkeit - 1
Mitgift den Mann erwarten, der nicht kommen wird, oder zu spät kommen wird, bereits erschöpft, entnervt, unfähig, eine zahlreiche Familie hervorzubringen.
Mit heißen Schläfen blickte Mathieu neuerdings um sich. Er befand sich am Carrefour Montmartre, an dem Punkte der Boulevardlinie, wo der Menschenstrudel am mächtigsten, am gefährlichsten ist. Die Menge war hier so dicht, daß er einen Augenblick warten mußte, ehe er in die Rue du Faubourg Montmartre einbiegen konnte, um durch diese und die Nebengassen den Nordbahnhof zu erreichen. Er wurde gedrängt, geschoben, fortgerissen von einer kompakten lebenden Masse, mitten durch den Frauenmarkt, der hier aufgeschlagen war, und das Fieber um ihn herum steigerte sich noch, wurde heftiger und sinnverwirrender, jagte der Nacht der Unfruchtbarkeit entgegen. Er hatte an dies oft gedacht, aber nie noch hatte er eine solche Beklemmung gefühlt bei dem Gedanken an die ungeheure Menge von Samen, die in den Wind gestreut werden muß, damit ein einziges Korn sich entwickle. Milliarden und Milliarden von Saatkörnern und Keimen rollen durch die Adern der Welt, ein Reichtum ohne Grenzen, ein solch mächtiger Strom von Fruchtbarkeit, daß er die ganze organische Materie durchdringt und umflutet. Die Natur hatte in ihrer Weisheit erkannt, daß der Samen der Pflanzen und Lebewesen in ungeheuerm Überfluß vorhanden sein muß, damit er ausreiche. Die Sonne trocknet das Saatkorn aus, die zu große Feuchtigkeit bringt es zur Fäulnis. Ein Sturm fegt Millionen Fischeier von den Flußufern, zerstört die Vogelnester, vernichtet die ganze Brut eines Frühlings. Bei jedem Schritte, den der Mensch macht, zertritt er Welten, verhindert die Entwicklung einer unzählbaren Menge kleinster Lebewesen. Es ist eine furchtbare Verheerung von Existenzen, welcher nur gleich ist die furchtbare Unendlichkeit der Lebenskeime, die das Land und das Wasser und die Luft erfüllen, unter der befruchtenden Wärme der Sonne. Und aus jeder zerstörten Existenz entsteht wieder Leben, gärt frische Kraft hervor, entwickelt sich eine Reihe neuer Wesen bis ins Unendliche. Nur der Mensch allein geht auf Zerstörung aus, verwendet seinen Scharfsinn darauf, bewerkstelligt sie aus egoistischen Gründen, für seinen isolierten Genuß. Er allein bemüht sich, die Schöpfung um seines Vorteils willen zu verkleinern, sie einzuschränken, sie selbst zu vernichten, verringert das Wachstum seiner Gattung, nur um seine Lust zu erhöhen. Wenn der Sturm die im Sande des Flußufers liegenden Eier wegführt, wenn der Orkan die Nester verwüstet, indem er die Zweige der Bäume abbricht, so ist es der Mensch allein, der mit Absicht die menschlichen Keime besudelt und zerstört, aus widernatürlicher Vernichtungssucht, um der dämonischen Wollust des Organs Genüge zu tun, dessen Funktionen er unterbindet. Das Verbrecherische dieses Tuns ist ebenso groß wie sein Unverstand. Und welch eine Vision von Größe und Kraft, wenn alle von der Natur zur Entstehung bestimmte Menschheit zur Welt käme, freudig empfangen, nutzbringend verwertet, die weite Erde bevölkernd, auf welcher heute noch ganze Kontinente fast unbewohnt sind! Wird es jemals zu viel Leben geben? Ist die größtmögliche Menge Lebens nicht zugleich die größte Menge Kraft, die größte Menge Reichtums, die größte Menge Glücks? Die ganze Erde ist schwanger von Leben, quillt über von Saft, zeugt Generationen auf Generationen, schlingt die Kette weiter, der Zukunft, jenem allumfassenden brüderlichen Volke entgegen, welches heranzuzüchten sie Jahrtausende gebraucht haben wird. Das ist der Glaube an alles, was entsteht und wächst, das ist die Hoffnung auf alle die schöpferischen Kräfte, welche sich frei entfalten zur glücklichen und machtvollen Ausbreitung der Menschheit, das ist die leidenschaftliche Liebe zum Leben, welche das pantheistische Begehren aller fruchtbaren Keime ist, und welche den Tod nur entgegennimmt als eine Erneuerung, als eine Gärung, welche das Leben ist und wieder das Leben.
Aber der warme, von Begierden geschwängerte Luftzug, der über Mathieus Gesicht strich, erweckte plötzlich das Bild Sérafinens in ihm. Es war dasselbe Brennen der Augen und Lippen, welches er bei den Morange empfunden hatte, als dieses Weib mit ihrem Dufte sich gegen ihn neigte. Sicherlich hatte er es ohne sein Wissen in sich mit fortgenommen, denn seine wachsende Verwirrung, sein Gefühl der Trunkenheit von den schweren Weinen, die Erregung infolge der vertraulichen
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