Fruchtbarkeit - 1
vorgerückten Stunde, da ihr Gatte nach Hause kommen würde. Er, der Mann, den ihr Uebereinkommen verkürzte, entschädigte sich zügellos anderwärts, setzte sich der Gefahr aus, einer andern das Kind zu erzeugen, das seine Frau nicht wollte. Wenn sie die Willfährigkeit bewiesen hatte, die sie ihm schuldig zu sein glaubte, blieb ihr nichts, als sich so zu Bett zu begeben und ihn zu erwarten, an den Abenden, da er, dem unzähmbaren Triebe gehorchend, fortging und seine Manneskraft dem Zufall nach in den Wind streute. Die Fabrik durfte nicht der Gefahr ausgesetzt werden, eines Tages geteilt zu werden, Maurice mußte allein die vervielfältigten Millionen erben, mußte einer der Fürsten der Industrie werden. Man unterschlug ehrbar, ohne jede Perversität, um des Geschäftes willen. Wenn der Mann sich auswärts vergnügte, schloß die Frau die Augen. Auf diese Weise setzte die kapitalistische Bourgeoisie, welche an Stelle des alten Adels getreten war, das von ihr aufgehobene Erstgeburtsrecht wieder ein, indem sie sich, gegen die Gebote der Moral und der Gesundheit, starr auf den einzigen Sohn beschränkte.
Mathieus Gedanken wurden hier durch einige Camelots unterbrochen, welche die letzte Ausgabe einer Abendzeitung mit den Ziehungslisten einer Losemission ausschrien, die von der Nationalkreditbank ausgegeben worden war. Und plötzlich sah er die Morange in ihrem kleinen Speisezimmer vor sich und hörte sie wieder laut träumen von dem großen Reichtum, der ihnen zuteil würde, wenn der Buchhalter erst in eines der großen Bankhäuser eingetreten wäre, welche ihre tüchtigen Leute zu den höchsten Posten aufsteigen lassen. Dieses Ehepaar, von Ehrgeiz verzehrt, vor dem Gedanken zitternd, daß ihre Tochter wiederum einen Angestellten mit beschränkten Mitteln heiraten könnte, war eine Beute des unwiderstehlichen Fiebers, welches in einem demokratischen Gemeinwesen, das durch das Mißverhältnis zwischen politischer Gleichheit und ökonomischer Ungleichheit zerrüttet wird, in allen die unbezähmbare Gier erweckt, eine Stufe höher zu steigen, um eine Klasse vorzurücken. Der Luxus andrer erweckte in ihnen fressenden Neid, sie stürzten sich in Schulden, um die Lebensgewohnheiten der höheren Klasse von ferne nachzuahmen, ihre natürliche Ehrenhaftigkeit und Güte wurde verdorben und verfälscht durch diesen Wahnwitz des eiteln Aufwärtsstrebens. Und er sah das Ehepaar, wie es um diese frühe Stunde zu Bette ging, denn er kannte die kleinbürgerlichen Gewohnheiten der Morange ebenso wie die Sparsamkeitskünste Valéries, welche die Woche hindurch auf die äußerste, sich bis auf den Verbrauch von Petroleum erstreckende Einschränkung hielt, um fürstliche Ausgänge an den Sonntagen ermöglichen zu können; er sah sie im Bett, nachdem sie die Kerze ausgelöscht, sich zärtlich umfangend, aber vorsichtig in ihrer Umarmung, ein Ehepaar, das sich anbetet, aber angstvoll vor den Folgen eines möglichen Selbstvergessens zurückschrickt: das Kind ist hier ebenso gefürchtet wie im Schlafzimmer des Chefs, welcher sich der Teilung widersetzt, das Kind, dessen Kommen eine unerträgliche Last bedeuten, welches den Aufstieg nach dem heißersehnten Reichtum aufhalten, wohl gar verhindern würde. In ihrem Zimmer am andern Ende der Wohnung schlief auch Reine nicht, noch bebend in Erinnerung an die Mittagsvorstellung, zu welcher sie die Frau Baronin de Lowicz geführt hatte, aufgeregt von den Küssen dieser schönen und eleganten Dame und bereits von dem reichen Gatten träumend, den ihre Eltern ihr versprachen, wenn sie ihr kein Brüderchen oder Schwesterchen gäben.
Eine Menschenansammlung versperrte Mathieu den Weg, und er bemerkte, daß er sich vor dem Theater befand, in welchem diesen Abend eine Premiere stattfand. Es war ein Zotentheater, das seine Plakate mit dem Bildnis seines »Sternes« zierte, ein überschlankes, rothaariges Weib, welches in doppelter Lebensgröße an allen Straßenecken klebte; und diesmal war sie von einer höchst bezeichnenden Symbolik, die nackte und flachbrüstige Jungfrau des sterilen Erotismus, eine lange perverse, freche Lilie, vor der die Vorübergehenden in großen Gruppen stehenblieben. Er hörte schlüpfrige Bemerkungen aller Art, er erinnerte sich, daß die Séguin in Begleitung Santerres sich in diesem Theater befanden, um dieses Stück anzuhören, welches von so blödsinniger Schamlosigkeit war, daß das Publikum der Generalprobe, welches wirklich nicht zu dem zartfühlenden gehörte,
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